DIE KLEINE SISSY MIT DEN SCHWEFELHöLZCHEN

Es war so schrecklich kalt und es begann dunkler Abend zu werden; es war
der letzte Abend des Jahres, Silvesterabend. In dieser Kälte und
Finsternis ging auf der Straße ein armes, kleines, allein gelassenes Kind,
viel zu kalt gekleidet für diese eisig kalt werdende Nacht. Als es von zu
Hause losgelaufen war, da war es ihm noch nicht zu kalt, doch jetzt - die
Kälte ging ihm durch und durch.

Doch was sollte es tun? Wieder umkehren, heimlaufen, klingeln, sich von
seinen Eltern die Wohnungstür öffnen lassen, um kurz danach an Wangen, Po
und Oberschenkel eine extrem gute Durchblutung zu haben? Nein, das wagte
dieses fast schon 10-jährige Kind nicht. Es wusste ja, dass es etwas
Verbotenes getan hatte: Es war abends bei Dunkelheit von zu Hause
weggelaufen, ohne seinen Eltern was zu sagen. Das war schon schlimm genug.
Doch wenn seine Eltern dann beim Heimkommen auch noch sahen, wie es
gekleidet war, ... - nein, umkehren war keine Lösung.

Das kleine Kind, es wusste nicht mehr ein noch aus. Kurz vor dem Abendessen
war es nach einer Ohrfeige durch seinen Vater aus der Küche gelaufen,
hatte sich in seinem Zimmer eingesperrt und geweint, hatte sich
schließlich umgezogen und dann heimlich das Haus verlassen.

Am Nachmittag war es mit seinen Eltern und seiner zwei Jahre älteren
Schwester auf dem Friedhof gewesen. Da hatte es ein Kerzchen mit
Streichhölzern anzünden dürfen. Es war recht geschickt darin und wagte
es auch, beim Reiben des Streichholzkopfes an der Reibefläche seinen
Zeigefinger fast ganz vorn beim Schwefelköpfchen zu haben, damit das
Streichhölzchen nicht brechen konnte. Nach dem Nach-Hause-Kommen waren die
Streichhölzer noch immer in seiner Hosentasche gewesen. Es hatte sie daher
zu den Schreibsachen auf seinen Tisch gelegt.

Kurz bevor es am Abend weggelaufen war, da steckte es noch die
Streichholzschachtel in eine seiner Taschen seines Mäntelchens. Das Kind
wusste ja aus der Geschichte "Das kleine Mädchen mit den
Schwefelhölzchen" wie schön ein Streichholz bei eisiger Kälte Hände
wärmen konnte. Ja hatte es denn gar selbst vor, ein "kleines Mädchen mit
den Schwefelhölzchen" zu werden?

Nachdem es nun für einige Zeit ziemlich unentschlossen herumgestanden war
und überlegt hatte, ob es nun doch wieder umkehren sollte oder nicht, fing
es nun erneut an, sich weiter von zu Hause zu entfernen. Bisher war es auf
einem Fußweg neben der Hauptstraße entlang gelaufen. Nun bog es rechts in
einen Feldweg ein. Der Himmel war sternenklar, der Mond schien, und bei
jedem Schritt knirschte der Schnee unter den Schuhsohlen.

Es war grimmig kalt.

Das frierende und verängstigte Kind wurde langsamer. Das Laufen, es
schmerzte. Die Kälte war einfach unerträglich. Seine mit einem Innenfell
ausgestatteten Stiefelchen waren ja gar nicht so übel, und die dicken, von
Oma gestrickten Socken wären über einer Feinstrumpfhose eigentlich ganz
gemütlich gewesen, doch heute ließ sich die Kälte weder von diesen
Socken noch von den Stiefeln oder dem schönen, bis gut über die Stiefel
reichenden Mantel mit dem dazugehörenden Schal aufhalten. Das kleine Kind
zog sich seine Mütze so weit ins Gesicht wie nur möglich, steckte seine
schon gar nicht mehr aus den Ärmeln heraus schauenden Hände in die Taschen
seines roten Kapuzenmäntelchens und näherte sich einer Scheune.
Vielleicht würde es sich dort ein wenig ausruhen, ein bisschen hinsetzen
können.


Ohne Mond und Sterne wäre es rund um das einsame Kind dunkel gewesen. In
der Ferne sah es Lichter seines Dorfes. War nicht das eine da die
beleuchtete Kirchturmspitze? Friedhof, Zündhölzchen. Ach ja, die hatte es
ja dabei. Erst mal ein bisschen aufwärmen und dann weitersehen, so dachte
es sich.

Es war grimmig kalt.

Des Kindes Hände waren so kalt, es konnte kaum die Streichholzschachtel
ordentlich halten. Die kleinen Streichhölzchen, die ließen sich nicht
recht anfassen. Die klammen Fingerchen taten nämlich nicht mehr das, was
sie tun sollten. So nahm es eben ein Streichholz mit Daumen und Zeigefinger
statt mit Daumen und Mittelfinger und Zeigefinger vorn beim Schwefel.
Prompt brachen die ersten Zündhölzchen ab. Das kleine Kind war
verzweifelt. Es begann zu weinen, es fühlte sich fallen gelassen,
vergessen von allen. Und das, obwohl es ja eigentlich selbst von zu Hause
weggelaufen war. Aber man hatte es geschimpft, geschlagen, wieder
geschimpft, erniedrigt, gedemütigt, und als alles nichts half, da
hatte man mit dem Schlagen wieder weitergemacht. Nein, nach Hause wollte es
nicht mehr. Es fürchtete sich vor seinem Zuhause genauso sehr wie das
kleine Mädchen in der einen Geschichte, nachdem es den ganzen Tag kein
Schwefelhölzchen hatte verkaufen können.

Endlich, schon halb abgebrochen, entzündete sich mal ein Streichholz. Die
schon fast zu Eiströpfchen festgefrorenen Tränen auf den Wangen des
Kindes konnten nun doch noch ein Lächeln um seine Mundwinkel erleben. All
die zerbrochenen und noch nicht verwendeten Streichhölzchen durften nun an
der Entstehung eines süßen, kleinen, wärmenden Feuerchens mitwirken.

In der Geschichte, die das kleine Kind kannte, da sah das Mädchen im
Schein seiner brennenden Schwefelhölzchen eine gefüllt Gans, einen
wunderschönen Christbaum und seine liebe Großmutter. Aber in diesem nun
wärmenden Feuerchen war keine Gans und auch keine Großmutter zu sehen.
Aber es sah den wunderschön geschmückten Christbaum bei sich zuhause im
Wohnzimmer stehen. Und es sah seine lächelnde Mutter auf sich zukommen.
Sie hielt in ihrer Hand einen Kleiderbügel, an dem ein wunderschönes,
rosa Kleidchen mit Rüschen, weißer Spitze und einem breiten, am Rücken
zu einer Schleife zu bindenden Bändchen hing.

Seine Mutter, sie half ihm beim Ausziehen seiner Bubenbekleidung, öffnete
ein Weihnachtspäckchen, holte daraus rosa-weise Mädchenunterwäsche, half
ihm sie anzuziehen, und hielt ihm dann SEIN Kleid so hin, dass er mit
seinen Armen nur noch hineinschlüpfen musste. Danach zog sie ihm den
Rückenreißverschluss hoch und band die Schleife seines oder besser gesagt
'ihres' Kleides.

Nein, Kälte verspürte 'Katrin' nicht mehr. Er war ganz ruhig, seelig,
glücklich, mit einem Lächeln um seine Lippen. Sein Traum, er ist in
Erfüllung gegangen. Nun war er wirklich - bis zu seinem/ihrem Ende - "DAS
KLEINE MÄDCHEN MIT DEN SCHWEFELHÖLZCHEN".

Als man am schönen, sonnigen Neujahrstag das erfrorene Kind fand, da gab
es erst Verwirrung wegen der Mädchenbekleidung. Für die Eltern war der
"Abgang" ihres Sohnes mehr als peinlich. Es war für sie absolut
beschämend, denn natürlich sprach sich's herum, dass ihr Sohn in einem
Sommerkleid seiner Schwester tot aufgefunden worden war.

Gut dass das kleine Kind es nicht mehr mitbekam, wie sein Vater ein paar
Tage später zum Rest seiner Familienmitglieder sagte: "Wäre Hansi doch
wenigstens an Leukämie oder so gestorben, dann würden jetzt die Leute
offen auf uns zugehen und uns Beileid wünschen. So aber tuscheln sie nur
unter sich, schauen uns komisch an, wechseln lieber die Straßenseite, als
zu uns 'hallo' zu sagen und bringen ständig indirekt zum Ausdruck, dass wir
für eine konsequente, diszipilinäre Erziehung zu blöd und somit für den
Tod dieses Kindes verantwortlich wären. Ich sag's euch klipp und klar. Der
Bub war unheilbar krank. Wir konnten ihm nicht helfen. Wir haben uns ja
wirklich bemüht, ihn geradezubiegen."

© „Keine Ahnung“