Lisa weint

Lisa hüpfte fröhlich über die Wegplatten im Park. Sie war auf dem Weg nach Hause und hatte allen Grund fröhlich zu sein. Im Fach Kunst hatte sie für ihr Bild eine Zwei plus bekommen. Eigentlich bekam sie für ihre Werke sonst oft nur eine Drei. Denn die Lehrerin, Frau Claussen, musste oftmals  nachfragen, was das denn sein solle, was Lisa da gemalt habe, und Lisa musste es ihr jedes Mal erklären. Dann sagte Frau Claussen meistens: „Lisa, du bist sehr kreativ.“ und gab ihr eine Drei. Lisa wusste nicht so genau, was „kreativ“ heißt, aber mit einer Drei war sie zufrieden. Doch dieses Mal sollten sie Tiere im Wald zeichnen und Bäume, das konnte Lisa gut. Viele dunkelbraune Stämme, Äste und Zweige, ein paar grüne Blätter und zwei längliche hellbraune Eichhörnchen mit Schnauze und Augen und so. Richtig niedlich sahen die aus. Das fand auch Frau Clausen und hatte daher die Zwei plus darunter geschrieben.
Darüber wird sich Mama bestimmt freuen, dachte Lisa und lief die letzten Meter auf ihr Haus zu. Sie schloss die Haustür auf und lief in die Küche. Aber da war niemand. Sie lief ins Wohnzimmer, aber auch dort war ihre Mutter nicht. „Hallo, Mama, wo bist du?“ Keine Antwort. Das gibt es doch gar nicht, dachte Lisa und schaute im Badezimmer nach, lief die Treppe nach oben und riss die Tür zum Schlafzimmer auf „Hallo Mama, ich habe eine....“ Weiter kam sie nicht. Ihre Mutter saß auf dem Bett, war ganz ernst, traurig und sehr blass. Ihre Augen waren rot, so, als ob sie geweint habe. Lisa bekam einen Schrecken. „Mama, was ist los, was ist mit dir?“, fragte sie ängstlich.
„Komm´ Lisa, setz dich zu mir“, sagte ihre Mutter mit leiser Stimme und legte den Arm um Lisa. Sie saßen eine Weile nebeneinander und Lisas Herz schlug so laut, dass man es fast hören konnte, aber sie mochte nichts fragen, sie spürte, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.
„Lisa, du weißt doch, dass Oma Stupps schon seit einiger Zeit krank ist?“
Ja, das wusste Lisa. Oma Stupps, bei der sie zweimal im Jahr Urlaub machten, ist Mamas Mutter. Die ist total lieb und macht immer ganz verrückte Sachen. Einmal hat sie 10 Tulpen gekauft und jede in eine eigene Vase gesteckt. Dann hat sie die zehn Vasen in ihrem Wohnzimmer aufgestellt. Das sah lustig aus. Ein anderes Mal hat sie beim Eismann eine ganze Schüssel mit 50 Eiskugeln gekauft, weil Lisa gesagt hat, es sei so heiß, da könne sie mindestens 50 Eiskugeln vertragen. Oma Stupps ist natürlich ihr Spitzname. Eigentlich heißt sie Oma Elisabeth, aber sie gibt ihren Enkelkindern oft einen kleinen Stupps auf die Schulter, daher ihr Name.
„Ist was mit Oma?“, fragte Lisa, die nun auch ganz blass geworden war, erschrocken ihre Mutter. „Oma ist heute Morgen gestorben, Lisa, sie ist einfach nicht mehr aufgewacht.“ Lisas Mama lief eine Träne über das Gesicht und da konnte Lisa nicht anders, ihre Hände begannen zu zittern und Tränen liefen aus ihren Augen und wollten gar nicht mehr aufhören zu laufen. Lisa weinte, schluchzte und ihre Mama streichelte ihr ein wenig die Schulter und weinte mit.
Als sie eine Zeit so gesessen hatten, wurden Lisas Tränen weniger, so, als wenn man irgendwann keine Tränen mehr hat, weil sie alle weggeflossen sind. „Ist Oma jetzt im Himmel, bei Gott?“, fragte sie leise, denn an einem Sonntag, als sie mit den Eltern in der Kirche war, hatte der Pastor gesagt, wenn man tot sei, komme man in den Himmel. „Ja Lisa, sie ist eingeschlafen und in den Himmel gegangen, dort hat sie jetzt keine Schmerzen mehr“, meinte ihre Mutter. Keine Schmerzen, dachte Lisa, das ist gut, denn natürlich wollte sie, dass ihre Oma keine Schmerzen hat. „Aber nun kann ich Oma ja nie, nie mehr besuchen!“, schluchzte sie. Nie mehr einen Stupps, keine Vasen, kein Eis und all die anderen lustigen Dinge. „Ich will Oma lieber hier bei uns haben“, flüsterte sie.
„Das geht leider nicht mehr“,  antwortete ihre Mutter. „Denn schau Lisa, alle Dinge auf dieser Erde gehen einmal zu Ende. Der Sommer geht vorbei, der schöne Urlaub dauert nicht ewig und die Blumen verblühen. So ist nun auch die schöne Zeit mit Oma vergangen. Aber sie ist in deinem Herzen und wenn du an sie denkst, wirst du immer Freude dabei empfinden.“ - „Und sie ist wirklich bei Gott und es geht ihr da gut?“ Lisa ließ nicht locker.

Ihre Mutter stand auf, ging zu ihrem Nachtschränkchen und nahm ein großes, dickes Buch heraus. Das größte und dickste, das sie im Haus hatten. Lisa wusste, dass es die Bibel war, in der stand viel vom Himmel und von Gott und so. Mama schlug sie auf und las ihr vor: Gott wird im Himmel alle Tränen abwischen und es wird keinen Tod, keine Trauer und keinen Schmerz mehr geben, denn was einmal war, ist für immer vorbei*. Mama klappte das Buch zu. Wenn das so ist, überlegte Lisa, dann hat es Oma ja endlich richtig gut nach all den Schmerzen. Und sie stellte sich vor, wie Gott der Oma Stupps mit einem großen Taschentuch die Augen trocknet. Er sah sie dabei sicher ganz lieb und freundlich an. „Und wenn ich einmal tot bin oder du?“ Ihre Mutter streichelte ihr über den Kopf: „Dann sehen wir uns alle im Himmel wieder, dann ist da unser Zuhause.“ Das ist gut, freute sich Lisa, dann sind wir ja alle irgendwann wieder zusammen.“

Mutter stand auf, um das Essen in der Küche zu machen. Lisa ging in ihr Zimmer und setzte sich auf das Sofa. Nun hatte sie ganz vergessen, Mama von der Zwei plus zu erzählen. Aber das konnte sie ja auch später noch machen. Wie das Taschentuch Gottes wohl aussieht, dachte sie und musste fast ein wenig lachen, vielleicht weiß mit roten Punkten? Ich werde Ecrin fragen, die weiß doch immer alles.
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und malte 10 Vasen mit 10 Tulpen.

* Offenbarung 21:4

Eine Geschichte von ©P.Eitner


Copyright © P. Eitner