Lisa betet



Rummms... die Tür des Schreibwarenladens schloss sich lautstark. Da müssen die mal was machen, dachte Lisa, diese knallende Tür ist ja nicht zum Aushalten. Wie gut, dass ich hier nicht arbeiten muss. Sie schaute in die Plastiktüte, ob sie nicht doch etwas vergessen hatte, aber dort war alles, was sie kaufen wollte: zwei Schreibhefte Nr. 25, liniert mit Rand und ein Bleistift H2 für das Zeichnen in Mathe.
Heute war ihr Glückstag. Nein eigentlich waren heute drei Glückstage an einem Tag oder es war ein riesengroßer, denn erstens durfte sie zwei Stunden früher nach Hause gehen, weil Herr Seibelstein zu einer Exkursion der Biolehrer gefahren war, was auch immer das sein mochte. Und zweitens hatten sie einen Erdkundetest geschrieben, der viel leichter gewesen war, als Lisa es erwartet hatte. Sie mussten nicht die dreißig größten Städte Deutschlands aufschreiben, wie sie erwartet hatte, sondern nur die drei größten und die konnte sich ja jedes Kind leicht merken: Berlin, Hamburg und München. Auch die anderen Fragen waren nicht schwer gewesen. Lisa hatte da ein gutes Gefühl. Und drittens - Lisa wurde ein wenig rot, als sie daran dachte - ja drittens hatte Tjorben sie heute gefragt, ob sie zu seinem Geburtstag kommen würde. Erst war Lisa der Gedanke etwas komisch vorgekommen, aber dann fiel ihr ein, dass auch Ecrin zu seinem Geburtstag geht. Und da hatte sie schnell ja gesagt.
Als Lisa in die Straße einbog, in der sie wohnte, blieb sie starr vor Schreck stehen. Was war das denn? Viele blinkende Blaulichter, der Rettungswagen und der Notarztwagen standen direkt vor ihrem Haus oder standen sie ein Stückchen weiter? Sie konnte es nicht genau sehen, aber sofort lief sie los, so schnell sie nur konnte. Ob etwas mit Mama war oder Papa? Ach nein, der war ja noch gar nicht zu Hause. Als sie näher kam, wurde es ihr klar: der Wagen stand vor Ecrins Haus.
Schnell schloss Lisa die Türe zu ihrer Wohnung auf und suchte nach ihrer Mutter. Da hörte sie, wie draußen einer der Wagen mit Sirenengeheul wegfuhr.
"Mama!", rief sie, "Mama, was ist los?"
Ihre Mutter nahm sie in die Arme "Ecrin, weißt du, Ecrin ist sehr krank." - "Was ist mit Ecrin, wird sie wieder gesund?" Lisas Herz klopfte ihr bis zum Halse, als sie sich mit ihrer Mutter aufs Sofa setzte. "Heute Morgen war Ecrins Mutter bei mir. Sie sagte, dass Ecrin in der letzten Zeit oft Schmerzen in den Beinen gehabt habe. Besonders nachts, wenn sie eigentlich schlafen sollte." - "Das weiß ich", unterbrach Lisa sie, "das hat Ecrin mir erzählt. War sie endlich beim Arzt?" - "Nein Lisa", unterbrach die Mutter sie, "Beim Arzt waren sie nicht, aber heute Morgen konnte Ecrin ihre Beine gar nicht mehr bewegen und da habe ich Ecrins Mutter gesagt, sie müsse unbedingt den Rettungswagen rufen, denn mit Lähmungen ist nicht zu spaßen!" - "Sie wird doch wieder ganz gesund, Mama, oder?" Lisa war ganz blass geworden. "Das hoffen wir alle, Lisa, aber wissen kann man es nicht. Das weiß Gott allein. Du kannst ihn ja darum bitten und wir bitten ihn auch!" Die Mutter streichelte Lisa über den Kopf. Toll, dass Mama immer einen Weg weiß, dachte Lisa und ging auf ihr Zimmer.
Sie wollte Gott bitten, aber wie geht so etwas? Ihre Eltern falteten die Hände und schlossen die Augen und dann sagten sie, was ihnen auf dem Herzen lag. Ob sie das auch konnte?

Sie wollte Gott bitten, aber wie geht so etwas? Ihre Eltern falteten die Hände und schlossen die Augen und dann sagten sie, was ihnen auf dem Herzen lag. Ob sie das auch konnte?
Sie setzte sich auf ihr Bett. Da sah sie das bunte Kreuz über ihrem Schreibtisch, das sie im Kindergarten zum Abschluss bekommen hatte. Sie stand auf, nahm es von der Wand, legte es vor sich auf die Bettdecke und setzte sich wieder. Dann schloss sie die Augen, faltete ihre Hände und sagte: "Lieber Gott, bitte..." Nein, das klang irgendwie komisch. Sie erinnerte sich, dass sie im Religionsunterricht ein Gebet gelernt hatten, das mit den Worten begann: Unser Vater im Himmel. Das hörte sich schöner, vertrauensvoller an. Damals gefiel ihr der Gedanke, dass es im Himmel oder irgendwo noch einen Vater gibt. Also begann sie von vorn: "Unser Vater im Himmel, Ecrin ist so krank geworden. Wahrscheinlich ist sie gelähmt. Bitte, bitte du musst ihr helfen, sie ist doch meine beste Freundin! Es darf ihr nichts geschehen. Amen!"
Nun hatte sie wenigstens etwas getan. Anders konnte sie Ecrin im Augenblick nicht helfen. Aber sie wollte sie so bald wie möglich im Krankenhaus besuchen. Am nächsten Tag war dazu keine Zeit, weil sie bei Opa im Altersheim vorbeischauen mussten. Als sie am übernächsten Morgen ums Haus ging, um einen Müllsack in die Tonne zu werfen, traute sie ihren Augen nicht. Da stand Ecrin quicklebendig und packte ihre Sachen aufs Fahrrad, um zur Schule zu fahren. "Was machst du denn hier?" Lisa sprang über den Zaun und schloss sie in die Arme: "Geht es dir wieder besser? Ich habe solche Angst um dich gehabt und für dich gebetet." - " Dafür danke ich dir", erwiderte Ecrin, als sie wieder zu Atem gekommen war. "Ich hatte auch große Angst. Aber die Ärzte haben mich gründlich untersucht und meinten dann, die Lähmung und die Schmerzen kommen vom Stress. Manchmal zucken meine Beine abends auch ganz komisch. Sie haben mir etwas zur Beruhigung gegeben. Nun geht es wieder, wie du siehst!" Die beiden Freundinnen umarmten sich noch einmal und dann musste Ecrin los, denn sie hatte heute zur ersten Stunde und Lisa erst zur zweiten.
In Gedanken versunken ging Lisa zurück ins Haus. Ob Gott so schnell geholfen hat? Ob er überhaupt etwas mit Ecrins Gesundwerden zu tun hatte? Eigentlich war sie ja gar nicht so schwer krank gewesen, da wäre doch jeder gesund geworden. Auch ohne Beten. Lisa erzählte ihrer Mutter von ihren Zweifeln.
"Hör zu, Lisa, ich sehe das so." Ihre Mutter sah sie liebevoll an. "Gott hilft uns Menschen oft so, dass wir es gar nicht bemerken. Aber wenn wir zu ihm beten, geschehen solche guten Dinge, wie du sie gerade erlebt hast, und wenn wir nicht beten, geschehen sie nicht. Du hast Gott um etwas gebeten, hast du es bekommen? Denke mal darüber nach. Und nun geh auf dein Zimmer und packe deine Schulsachen!" Lisa stieg die Treppe hinauf. Ja, sie hatte bekommen, worum sie gebeten hatte. "Danke Gott", flüsterte sie und freute sich schon darauf, Ecrin gleich in der Schule zu treffen.


Eine Geschichte von ©P.Eitner


Copyright © P. Eitner