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LUREBY


aber Gott schwieg....



eine ganz und gar
unwahre Novelle
von Saron





Unsere Liebe darf nicht nur in schönen Worten bestehen; unser Tun muss ein echter Beweis dafür sein.
Johannes 3, 18






aber Gott schwieg.......

Wunderschön schien die Sonne an jenem Septembernachmittag in Nordnorwegen, als Ole Einar Björndalen die Tür seines weißen Holzhauses schloss und sich auf den Weg zu der kleinen Dorfkirche von Lureby machte. Lureby ist ein verschlafenes und vergessenes Nest hoch oben in der Finnmark, im Hochland hinter dem Laksefjord. Dort schlängelt sich östlich von Lebesby ein kleines Tal an einem Nebenarm des Tanafjordes ins Land hinein, erreichbar nur über eine Schotterstraße, die im Winter zeitweilig unpassierbar ist. Ole Einar war der Pastor der kleinen Gemeinde, die ganze 19 Seelen zählte, und weil seine Schar so klein war, kannte er alle seine Schäfchen gut und sie kannten ihn und vertrauten ihrem „Pastor“, der eigentlich gar keiner war. Denn Ole war einst Fischer in Alta gewesen, bis ihm ein schadhafter Mastbaum das rechte Bein zerschlug und er seitdem nur noch Touristen mit seinem klapprigen Fischerboot zum
Øksfjordjøkelen, dem neuntgrößten Gletscher Norwegens, fahren konnte. Als er schon einige Jahre in Rente war, hatte der Herr ihn in seinen Dienst gerufen, den er mit großer Hingabe und treuem Eifer versah, zumal er als Witwer sehr zurückgezogen lebte und daher die Gemeinschaft mit den anderen am Sonntag zu schätzen wusste. Und er liebte dieses alte weiße Kirchlein, das an der tiefsten Stelle des Tales errichtet worden war, während alle anderen, ebenfalls weiß gestrichenen Häuser an die beiden Hänge des Tales gebaut worden waren. Nein, nicht alle Häuser waren weiß. Es gab noch das blaue von den beiden Gustafsons und das gelbe der Pettersons. Beide Familien waren noch nie im Gotteshaus erschienen, trotz vieler Einladungen und Gebete, und es half nicht, dass man sie stets freundlich grüßte und ihnen sogar Hilfe angeboten hatte, als ein Steinschlag vor einigen Jahren ihre Häuser beschädigt hatte. Sie galten zum Leidwesen der anderen Dorfbewohner als nicht missionierbar und wurden daher im Ort nur die „Heiden“ genannt.
Ob es wohl Zufall ist, dass gerade ihre Häuser sich vom Weiß der anderen deutlich absetzen, dachte Ole und öffnete die knarzende Kirchentür. Sofort quoll ihm ein kräftiger Choral entgegen. „Lobe den Herren, den mächtigen König der Erden.....“ spielte Odd Hansen, der pensionierte Kantor der kleinen Gemeinde, inbrünstig auf seinem Harmonium. Er war vor Jahren am grünen Star erblindet, aber sein Gehör hatte sich dadurch so geschärft, dass ihm kein falscher Ton des in die Jahre gekommenen Harmoniums entging. Er verzieh sich keinen Fehler und so übte er sicherheitshalber sein Liedpensum noch einmal direkt vor einem Gottesdienst. Schon seit geraumer Zeit hatte die Gemeinde nach einigem Hin und Her eine Lobpreiszeit während des Gottesdienstes eingeführt, in der Odd von Anders mit einer Gitarre begleitet wurde. Das hatte neuen Schwung in die Gemeinde gebracht, obwohl Anders zunächst dagegen gewesen war, er hielt Lobpreis für nicht schriftgemäß, da in ihm meist wichtige Elemente wie Sünde, Strafe und Buße ausgeblendet werden. Anders kannte sich sehr gut – einige meinten sogar besser als der Pastor – in der Bibel aus. Während Ole predigte, hatte Anders oft mit aufgeschlagener Bibel dagesessen, dann und wann genickt oder mit dem Kopf geschüttelt, je nachdem, ob er Oles Auslegung für richtig hielt oder nicht. Viele Jahre hatte er sich so verhalten, bis die Gemeinde eine Lösung im Umgang mit seinen „überfrommen Macken“, wie sie es nannte, gefunden hatte. Fairerweise gestand man ihm aber zu, dass er wirklich die bewundernswerte Begabung besaß, zu jedem halbwegs bekannten Bibelvers sofort die passende Schriftstelle nennen zu können. Allerdings war es ihm nie gelungen, „Ältester“ in der Gemeinde zu werden, weil man offenbar fürchtete, die Gemeinderatssitzungen würden sich stark in die Länge ziehen, wenn man mit Anders stundenlang darüber diskutieren müsse, was die Bibel zu diesem oder jenem Thema zu sagen habe. Nun hatte aber seine Frau Bjorg bei der letzten Mitarbeitersitzung dermaßen laut protestiert und geradeheraus von Mobbing gesprochen, weil ein so geistlicher Mann, wie der ihre, nie eine Chance zum Amt des Ältesten bekommen habe, dass man beschloss, ihn in der nächsten Gemeindeversammlung endlich für dieses Amt vorzuschlagen. Das hatte Anders stolz gemacht und er gab sich noch mehr Mühe, alle biblischen Fragen ins rechte Licht zu rücken.
Allmählich füllte sich der helle, fast schmucklose Kirchenraum. Eline und Kari trafen ein, zwei Chorsängerinnen, ebenso wie Linea und Sofie und auch Rafna und Sussu, zwei Samifrauen. Ferner sang auch Bjorg, die Frau von Anders, im Chor mit wie auch Jonas, ein Frührentner, der es genoss, als einziger Mann im Chor der Hahn im Korb zu sein. Chorleiterin war Inger, eine stattliche Frau, die den Männern früher beim Fischen geholfen hatte, aber nun diesen so ganz anderen Dienst mit Inbrunst ausübte. Jetzt fischte sie mit ihren Liedern die Traurigkeit aus den Herzen der Gläubigen und legte diese Gott zu Füßen. Es war ein schönes Bild, wenn sie mit ihren stets langen, ausladenden Kleidern vor ihren Sängern stand und ihnen neben den alten Liedern auch viele neue rhythmische Lieder beibrachte.
Die alte Tür knarzte wieder, um Kjel und seine Frau Silje hereinzulassen, die sich fröhlich grüßend zu Arne und Torill setzten. Beide Männer waren gestandene Fischer und Älteste der Gemeinde. Der dritte Älteste war Thor, der sich trotz dieses heidnischen Namens auch als Menschenfischer bewiesen hatte, denn er hatte Knut Hanson, einen alten schwerhörigen Mann, der im letzten Krieg ein Partisan gewesen war und Dinge getan hatte, die keiner so richtig wissen wollte, zum Herrn und in die Gemeinde geführt. Jeder hier war froh, dass Knut Jesus und Jesus Knut gefunden hatte. Die anderen Fischer wären auch gerne Menschenfischer geworden, aber leider gab es in Lureby keine Menschen zu fischen, bis auf die vier Heiden in ihren bunten Häusern, aber die hatten sich ja als immun gegen jede Art von Missionierung erwiesen. Anders meinte daher, von der Bibel her gesehen, sollten sie den Staub von ihren Schuhen schütteln und diese Leute nicht einmal grüßen, denn sie hätten ihr Heil verspielt.
Inzwischen waren sie alle gekommen, die 19 Mitglieder dieser kleinen aber lebendigen Gemeinde in Lureby. Nein, einer fehlte noch: Lasse, der Schwede, der sich stets höflich und hilfsbereit zeigte., obwohl er - wie alle Schweden in Norwegen - als langweiliger Besserwisser galt. Mit seinem uralten Volvo-Lastwagen lieferte er den Fang der Fischer bei der Fischereigenossenschaft in der nächsten Stadt ab und auf der Rückfahrt brachte er von dort Lebensmittel und anderes für die Leute im Dorf mit.

*

Sie waren nicht reich an Gütern, die Leute in Lureby, aber reich in ihrem Glauben und ihrer Hoffnung auf Jesus Christus.

*

Als das Läuten der kleinen Glocke im Dachreiter der Kirche mit einigen dünnen Tönen ausgeklungen war, breitete sich eine große Stille in der Kirche aus, fünf Minuten "Ruhe für den Herrn", wie die Leute von Lurey sie nannten. Es hatte sie gestört, dass alle stets aus ihren Gesprächen gerissen wurden und die Unruhe im Raum nur langsam verebbte, wenn das Eingangslied gespielt wurde und der Gottesdienst begann. Sie hielten es für angemessener, in Ruhe und Anbetung den Herrn und den Beginn des Gottesdienstes zu erwarten. Und so erschraken einige nun stets, wenn Odd mit seinem Harmonium eben diese andächtige Stille beendete. Mächtig spielte er auf dem alten Instrument, so laut, dass das Quietschen des Blasebalgs im Donnern des Chorals unterging. Aber dieses Quietschen war auch schon der einzige Misston im Gottesdienst. Nach der ersten Strophe setzte der Chor ein und nach der dritten sang die ganze Gemeinde: „Lobe den Herren.“ Das war schön anzuhören, zumal es nicht so getragen gesungen wurde wie in anderen großen Kirchen, sondern schwungvoll, mitreißend und laut. Und es folgte gleich das nächste Lied „Deilig er jorden“ (Herrlich ist die Erde) und Odd steigerte die Lautstärke noch von Strophe zu Strophe bis zum Schluss alle mit ihren Füßen auf den Holzboden trommelten und einander froh zusangen: „Menneske, fryd deg! Oss er en evig Frelser født! (Menschen freut euch, euch ist ein ewiger Retter geboren)“ Und es tat ihrer Freude keinen Abbruch, dass dieses Lied eigentlich ein Weihnachtslied ist. Sie meinten, die Botschaft von Weihnachten könne man doch an jedem Tag neu erleben.
Hätte es einen Fremden in diese so weit nördlich gelegene, zutiefst einsame Gegend verschlagen und er wäre in jenen Gottesdienst geraten, er wäre sofort mitgerissen von der fröhlichen Sangesfreude dieser von Gott so begeisterten Leute.
Nun trat Kjell vor den schmucklosen Altar mit dem silbernen Kreuz und berichtete, dass er in der vergangenen Woche auf seinem Schiff beim Einholen des Fanges ausgerutscht sei und sich den Fuß dabei derart verletzt habe, dass er mit dem Schlimmsten habe rechnen müssen, nämlich einem gebrochenen Fuß und mindestens zwei Wochen Arbeitsunfähigkeit. Letzteres bedeute für ihn natürlich einen Verdienstausfall, den er und seine Frau Silje sich in ihrer besonderen Situation gar nicht leisten könnten. Alle in der Kirche wussten, dass die beiden gerade das Dach ihres Hauses erneuert hatten, da das alte beim letzten Sturm eingebrochen war, und sie seitdem jede Öre nötig hatten, um die Reparaturkosten bezahlen zu können. Kjell fuhr fort, man habe ihn nach Hause gebracht, aufs Bett gelegt und dann seien die Ältesten Arne und Torill und auch Pastor Ole Einar gekommen und hätten mit ihm gebetet. Gott habe, Dank und Preis sei ihm dafür, ihr Gebet erhört und schon nach drei Tagen kalter Umschläge und einiger Schmerztabletten sei er wieder auf den Beinen und gestern sogar wieder auf seinem Boot gewesen. Und da Kjell alles, was er in der Gemeinde je gesagt hatte, stets mit einem mahnenden Blick auf die Endzeit beendete, tat er es auch dieses Mal mit den Worten : „Niemand von uns sollte vergessen, dass Gott gerade jetzt in den Tagen der Endzeit bei seinen Kindern ist und sie Mut machend unterstützt. Wenn wir uns zu ihm stellen, stellt er sich auch zu uns.“ Er beendete sein Zeugnis mit einem fröhlichen: „Halleluja, Gott ist gut!“ und setzte sich wieder mit Tränen in den Augen. Auch die anderen waren tief berührt. Inger gab ihrem Chor ein Zeichen, der darauf vielstimmig, durch dieses Zeugnis gestärkt, den Chorus anstimmte: „Gott ist gut! Wir singen laut, ja, Gott ist gut.“

Und sie taten, was sie sangen, laut hallte das Lied durch den Raum, abwechselnd vom Chor und der Gemeinde gesungen, und Anders schlug in die Saiten seiner Gitarre, dass es eine Freude war. Es folgte: „Jesus, in deinem Namen ist die Kraft“. Bei der dritten Strophe erhoben die Sänger ihre Arme und Augen zum Himmel, so als könnten sie den Sohn Gottes durch die Kirchendecke hindurch wahrnehmen. Sie sangen noch drei weitere kurze Lieder und dann fragte Ole, ob jemand während des Lobpreises einen Eindruck oder ein Bild von Gott erhalten habe. Nach dieser Frage wurde es nicht, wie andernorts oft, peinlich und mäuschenstill in der Gemeinde, denn hier in Lureby folgten diesem Aufruf stets sehr zuverlässig entweder Eline oder Kari, selten beide, und berichteten von ihren Eindrücken, die sie während des Gesangs erhalten hatten. Sollte Gott ihnen keine geschenkt haben, erzählten sie von Visionen, in denen sie Jesus gesehen hatten, der mit einladend ausgestreckten Armen vor ihnen gestanden habe. Das Besondere dieser „Bilder“, wie sie sie nannten, war die Schilderung seiner Gewänder, die Eline oder Kari jedes Mal in leuchtenden Farben ausmalten.
Die Gemeinde war eine Zeit lang skeptisch gegenüber diesen sich oft wiederholenden Visionen gewesen, ergab sich dann aber in das offenbar Unvermeidliche und war insgeheim auch ein wenig neugierig, welche Kleidungsstücke Jesus denn an diesem Sonntag trug.
Heute war es Kari, die nach vorne ging und sagte, Gott habe ihr in einem Bild einen Vogel auf einem Baum gezeigt, der sich putzte und plusterte, bis ein Raubvogel sich auf ihn stürzte und mit ihm davonflog. Das traurige Schicksal dieses armen Vogels konnte sich jeder gut ausmalen. „Gott zeigte mir eben dieses Bild“, begann Kari mit der Auslegung, „weil er uns mahnen will, uns nicht so zu putzen und aufzuplustern wie dieser eitle Vogel, sondern er liebt uns so, wie wir sind, und wir sollen ihm in Bescheidenheit nachfolgen!“ - „Amen“, riefen einige. Weitere Visionen gab es heute nicht und somit war die Zeit für die Predigt gekommen. Sie stellte für viele den Höhepunkt der Woche dar, denn was hatten die Menschen in dieser fernen und öden Gegend sonst, worüber es sich lohnte Gedanken zu machen?
Ole Einar erhob sich, nahm seine Bibel und ging langsamen Schrittes hinter das kleine Rednerpult. Er bedankte sich bei Kjell für das Mut machende Glaubenszeugnis und bei Kari für diese ernste, aber doch wichtige Botschaft. Gott sei eben nicht nur lieb und freundlich, er könne auch strafen, um Menschen wieder auf den rechten Weg zu bringen. Ole sagte noch einiges mehr, gelegentlich neigte er dazu, etwas ausschweifend zu werden, aber dann atmete die Gemeinde hörbar auf, als er begann: „Der Herr hat mir für heute eine gute Botschaft aufs Herz gelegt und mir gezeigt, worin er mich und euch heute lehren will.“ Das waren die Worte, auf die alle gewartet hatten, denn mit genau ebendiesen leitete Ole seit Jahren jede seiner Predigten ein. Dadurch wussten seine Leute, jetzt kommt das Wesentliche, die Predigt, aus der ihnen immer wieder neuer Glaube erwuchs, und sie spitzten die Ohren, als er das ganze Kapitel 7 des Buches Josua aus dem alten Testament vorlas.
Dort steht die Geschichte von Achan, einem Israeliten, der als einziger nach einer Schlacht gegen die Anweisung Gottes verstoßen hatte, alles aus Jericho erbeutete Gold und Silber in die Stiftshütte zu bringen und die restliche Beute zu verbrennen. Er hatte sich gedacht, ein bisschen Gold, Silber und ein schöner Mantel stünden ihm zu und er vergrub alles in seinem Zelt.

Die folgende Schlacht um Ai ging für Israel verloren, 36 Krieger wurden getötet, andere flohen und Josua, ihr Anführer, fragte Gott verzweifelt nach dem Grund, warum er sie verlassen habe. Sie hätten ihn bestohlen, antwortet Gott, und er werde ihnen nicht mehr helfen, bis der Dieb gefasst und mitsamt seiner Familie getötet worden sei. Josua ließ das Volk am nächsten Tag antreten und Gott selbst offenbarte vor aller Augen die Tat und den Täter, der mit seiner Familie Gottes gerechte Strafe, den Tod, erleiden musste.
Und dann legte Ole diesen Text sehr wortgewandt aus, indem er seiner Gemeinde klarmachte, dass Gott bis zum heutigen Tag keine Schandtat, keine Sünde in seiner Gemeinde dulden würde und der Herr selbst würde, wenn es doch etwas Derartiges in der Gemeinde gäbe, es vor aller Augen offenbaren und den oder die Täter gerecht und streng bestrafen. „Vergesst es nicht, was uns diese Geschichte zeigt“, rief er ein wenig theatralisch, „wenn nur einer unter uns sündigt, wird Gott auch allen anderen seinen Segen verweigert. Denn Gott ist heilig und er kennt uns in der Tiefe unseres Herzens. Darum wollen wir uns davor hüten, Gott etwas vorzuspielen!“ Einige nickten zustimmend, andere schauten eher etwas betroffen drein.
Die folgende Gebetszeit, die es jedem gestattete, sie mit dem eigenen Gebet zu bereichern, war kurz und geprägt von dem Anliegen: Bin ich es Herr, den du meinst, dann zeige es mir, damit ich Buße tun kann.

10

Danach hatte man es so eingerichtet, dass Anders seinen Kommentar zur Predigt abgeben durfte. Das war sicher ungewöhnlich, wenn nicht gar einmalig in kirchlichen Kreisen, aber man hatte sich überlegt, dass es besser sei, wenn alle hörten, was er zu sagen hatte, als dass er nach jedem Gottesdienst einzelne zur Predigt ansprach, um ihnen gegenüber seine kritischen Gedanken zu äußern. Das hätte nur Gerede und Getuschel hinter dem Rücken des Pastors gegeben. Darum hatte man ihm erlaubt, wichtige Einwände gleich nach der Auslegung kurz und bündig vorzutragen. Anders hatte im Gegenzug zugesagt, das Kopfschütteln oder Nicken während der Predigt zu unterlassen. Er trat also hinter das Rednerpult und wies darauf hin, dass man nach 1. Samuel 21 Gott durchaus etwas wegnehmen dürfe, denn David war ja nicht befugt gewesen, die Schaubrote im Tempel zu essen und tat es doch. Aber das sei wohl eher eine Art Mundraub gewesen. Sollte aber nun jemand in der Gemeinde denken, fuhr er fort, diese Geschichte gehöre ins Alte Testament und im Neuen stünde nur etwas von Vergebung und Liebe, der solle mal in der Apostelgeschichte 5, 1-11 die Geschichte von Ananias und Saphira lesen, die ihren Acker für Gott verkauft hatten, ein wenig vom Erlös für sich behalten hatten, aber dem Apostel gegenüber behaupteten, dass sie die gesamte Einnahme für den Acker der Gemeinde spenden würden. Schon diese kleine Lüge hätten sie genau wie Achan mit dem Leben bezahlen müssen. Dann setzte Anders sich.
Nach dieser Einrede saß die Gemeinde etwas erschrocken und hilflos da und war erleichtert, dass Inger spontan zu singen begann: „Du vergibst mir all meine Schuld und du heilst alle meine Verletzungen.“ Dieses Lied vertrieb das schlechte Gewissen und als sie es zum dritten Male wiederholten, waren die Gesichter wieder froh und man nickte sich freundlich zu.
Nun waltete Lasse, der Schwede, seines Amtes, holte den Klingelbeutel aus dem Schränkchen am Ausgang und reichte ihn herum. Die meisten legten nur einige Kronen hinein, da der Geldbedarf der Gemeinde recht bescheiden war: denn außer für Erhalt und Heizung der Kirche fielen kaum Kosten an. Jeder arbeitete ehrenamtlich und viel Geld zum Spenden hatten die meisten ohnehin nicht übrig.
Auf ein Zeichen von Ole erhob sich die Gemeinde und er segnete seine ihm anvertrauten Schäflein mit einem altchristlichen Segenswort:

Der Herr sei vor dir,
um dir den rechten Weg zu zeigen.
Der Herr sei neben dir,
um dich in die Arme zu schließen,
und dich zu schützen ….....
….Der Herr sei über dir, um dich zu segnen.
So segne dich der gütige Gott.

Nach dem Segen setzten sich alle wieder und hielten ein weiteres Mal die „Ruhe für den Herrn" ein, denn sie waren übereingekommen, sich nicht gleich nach der Predigt auf den Kaffee zu stürzen. Man wollte das Gehörte lieber noch einige Augenblicke nachwirken lassen und nicht gleich zerreden. Auch hatte Ole sie gelehrt, dass es gut sei, in diesen 5 Minuten darüber nachzudenken, welche drei Gedanken aus der Predigt jeder mit in seine Woche nehmen wolle, um sie zu überdenken und sie im Alltag umzusetzen.

Als sie das getan hatten, gingen alle entweder zur rechten hinteren Seite des Kirchenschiffes, wo es den leckeren Kirchenkaffee gab, und ab und zu, besonders wenn jemand Geburtstag gehabt hatte, auch einen Keks oder einen Skoleboller, oder sie gingen zur linken Seite, wo Linea und Sofie einen kleinen Büchertisch hatten, an dem gerne gekauft wurde, denn die Gegend war eben sehr einsam und die Nächte so hoch im Norden sehr, sehr lang. Da war ein gutes Buch schnell durchgelesen.

Und nachdem man fleißig alle Neuigkeiten ausgetauscht hatte, sofern es denn welche gab, gingen die Leute aus Lureby getrost und gesegnet nach Hause und waren für die neue Woche gerüstet.


*


Diese begann sehr regnerisch so dass niemand gerne vor die Tür ging, zumal auch noch ein heftiger Wind die Regentropfen gegen die Häuser peitschte. Der Himmel war ein einziges Grau. Die regennasse Stille wurde nur durch das gelegentliche helle Trillern einiger Regenbrachvögel unterbrochen, die lustlos mit ihren langen, leicht gebogenen Schnäbeln im Moos herumstocherten. Daheim zu bleiben war Sofie und Linea gerade recht. Die beiden lebten davon, kleine Holzpuppen in der Tracht der dort heimischen Samen herzustellen, die bei den Touristen in der fernen Stadt Alta sehr begehrt waren. Unterstützt wurden sie bei der Herstellung von den beiden Samifrauen Rafna und Sussu, die wegen ihrer besonderen Kenntnisse der Samikultur ausersehen waren, die samische Festtrachten auf das Maß der Puppen zu verkleinern. Darin waren sie so talentiert, dass ihr Wissen und ihr Geschick maßgeblich zum Erfolg des Geschäftes beitrugen.
Den Holzkörper der Puppen stellte Knut Hanson her. Der ehemalige Partisan hatte sich eine kleine Werkstatt mit verschiedenen Sägen und einer Drechselbank eingerichtet.
Er schätzte den Geruch und die Bearbeitung des Holzes sehr und freute sich, das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden zu können, indem er den Holzgrundkörper erstellte. Liebevoll angemalt wurden die Püppchen schließlich von Linea, während Sofie ihre Verpackung übernommen hatte. Ganz nach Bedarf brachte Lasse, der Schwede, einen oder mehrere Kartons mit seinem Wagen zur Post, die sie nach Alta weiter beförderte. Dort warteten die niedlichen Püppchen im Einkaufzentrum nicht weit von der Nordlichtkathedrale auf ihre neuen Besitzer. Meist waren es Touristen, die ihre Fahrt zum Nordkap in Alta unterbrachen und froh über dieses originelle Andenken waren.
Ole Einar bereitete die Predigt für den nächsten Sonntag vor. War er in seinem letzten Vortrag zu streng mit seiner Gemeinde gewesen, fragte er sich. Ob jeder einzelne seiner Glaubensgeschwister wohl begriffen habe, dass es ihm als Pastor stets nur darum ging, jeden von ihnen tief im Wort Gottes und in der Liebe Jesu zu verwurzeln? Um dieses Ziel zu erreichen, müsse er von Zeit zu Zeit sehr ernst predigen. Das Christsein sei doch kein Sonntagsspaziergang, meinte er, und niemand, der ihm anvertraut war, sollte, billiger Gnade vertrauend, einen leichtfertigen oder oberflächlichen Umgang mit Gott pflegen. Andererseits wusste er, dass ernste Predigten und dauerhafte Ermahnungen schnell Ohren und Herzen der Zuhörer verschließen können. Das wäre schlimm, denn er war der Ansicht, eine Predigt sei nur dann eine gute, wenn mindestens ein einziger Hörer durch sie sein Verhalten ändern würde.
Einar Ole hätte sich nicht diesen zweifelnden Gedanken hingegeben, wenn er gewusst hätte, dass dieses Mal gleich zwei Menschen durch seine Worte tief in ihrem Innersten aufgewühlt worden waren.
Der eine war Jonas, ein Frührentner und Junggeselle, der für jeden Spaß zu haben war. Als Frohnatur dem Leben zugewandt, liebte er es, nach dem Gottesdienst beim Kaffee die Leute zum Lachen zu bringen. Er meinte, viele Christen schauten viel zu sauertöpfisch drein, da sie offenbar gar keinen Spaß auf Erden hatten und alle Lebensfreude erst im Himmel erwarteten. „Das Leben findet hier und heute statt“, sagte er oft und hatte so manch einen schon von seinen trüben Gedanken abgebracht. Sein Wahlspruch lautete:
Frykt ikke at ditt liv skal ta slutt. Frykt heller at det aldri skal begynne. (Fürchte nicht das Ende des Lebens. Fürchte lieber, dass es niemals beginnt.)
Aber heute saß Jonas in seinem Sessel und trübe Gedanken verdunkelten seine sonst so fröhliche Seele. Er wusste und fühlte tief in seinem Innersten, diese Predigt hatte ganz allein ihm gegolten. Gott wollte ihm zeigen, dass er sich von ihm nicht länger durch sein fehlerhaftes Verhalten beleidigen lässt. Er hatte gesündigt, schwer gesündigt, und nun würde Gott diese Sünde vor der ganzen Gemeinde offenbar werden lassen. Wie bei Achan oder bei Ananias und Saphira. Jahrelang schon hatten Jonas und Linea ein heimliches Verhältnis miteinander, trafen sich in der Natur oder in seinem alten Bootshaus unten am Fjord, zweimal hatten sie sich sogar in der Kirche verabredet, hatten viel miteinander gesprochen, Zärtlichkeiten ausgetauscht und manchmal auch mehr. Das Zusammensein mit Jonas hatte Linea gut getan, denn sie neigte zur Schwermut, was dem oft trüben, kalten und windigen Wetter Nordnorwegens geschuldet war und auch der Dunkelheit, die dort oben viel schneller hereinbricht als im Süden. Er liebte Linea über alles und der Gedanke, dass nun alles aufgedeckt werden würde und sie in Schande vor der Gemeinde stehen würde, bedrückte ihn so sehr, dass es ihm geradezu die Luft abschnürte. Was mit ihm selbst geschah, konnte er ertragen, aber dass er durch sein Verhalten Linea in eine solch schreckliche Situation gebracht hatte, schien ihm unverzeihlich. Sie waren zwar beide unverheiratet, aber hatte ihr Pastor nicht immer wieder in seinen wunderbaren Predigten darauf hingewiesen, dass Sexualität nach dem Willen Gottes in die Ehe gehöre, und er jede andere Praxis ahnden würde? Warum nur wollte Linea nicht heiraten und beharrte auf ihrer Meinung, gerade die Heimlichkeit würde eine Beziehung stärken und interessant machen. Ihr Standpunkt in dieser Hinsicht lautete kurz und bündig: Erlaubtes wird schnell langweilig. Und nun standen sie vor dem Ergebnis dieser ihrer Heimlichtuerei. Jonas schämte sich, lief wie ein waidwundes Tier auf und ab und fragte sich, wie Gott es wohl anstellen würde, sie beide zu entlarven. Vielleicht hatte Eline oder Kari einen Eindruck, dass Sünde und Unsegen in der Gemeinde sei und Ole Einar würde dann sagen, wer das zu verantworten habe, möge sich zu erkennen geben. Was sollte er dann tun? Jonas Inneres war aufgewühlt und der Geist Gottes, so empfand er es, rumorte in ihm, denn die Wahrheit wollte ans Licht.
Irgendwann in diesen Tagen kam er auf die Idee, Linea anzurufen. Um sie aber nicht unnötig mit seinen Ängsten zu belasten, falls sie die Dinge anders sah, fragte er vorsichtig, nachdem er sich nach ihrem Befinden erkundigt hatte, wie ihr die Predigt gefallen habe. „Ganz gut,“ antwortete sie, „man soll eben nicht gierig nach Geld und Gut sein.“ So sah sie das? Keine Betroffenheit von ihrer Seite? Jonas atmete erleichtert auf und war wenigstens etwas beruhigt. Zumindest fürs Erste.
Die zweite, die mit der Predigt vom Sonntag haderte, war die Chorleiterin, Inger Olafson. Ihre Probleme waren ganz anderer Art, aber ebenso schmerzlich. Vor 15 Jahren hatte sie mit ihrem Mann in Trondheim gelebt. Sie führten dort einen bescheidenen Zwischenhandel für die Klein-Fischer. Es ging ihnen recht gut, bis eines Tages etwas passierte, das ihr ganzes Leben dauerhaft ins Chaos stürzen würde. Ihr Mann war nach einer Sitzung des Ältestenrates ihrer Kirchengemeinde auf dem Weg zu dem kleinen Haus am Hafen, in dem sie damals wohnten, als einige Personenwagen mit großer Geschwindigkeit aus der Dronningens Gate rechts in die Munkegata einbogen. Einer der Fahrer verlor die Kontrolle über seinen Wagen und überfuhr ihren Mann, der gerade den Fußgängerüberweg betrat. Er war auf der Stelle tot. Wie sich später herausstellte, saßen in den Autos einige junge Leute, die aufgedreht und berauscht von einer Party zur anderen fuhren. Und obwohl das norwegische Jugendrecht eine Bestrafung mit bis zu zwei Jahren Behandlungsanstalt ermöglicht, bekam der jugendliche Fahrer des Unglücksautos gerade einmal 6 Monate und einige Stunden Sozialarbeit, da er zum Zeitpunkt des Unfalls schwer betrunken und damit nicht voll verantwortlich gewesen sei. Dieses Urteil war Inger seither stets ein Stachel im Herzen. Ihr Mann war gestorben, ihr Leben, ihre berufliche Existenz von einer Minute auf die andere für immer zerstört und der Täter erhielt nur eine Ministrafe. Aber noch größer war ihr Unverständnis Gott gegenüber. Wie konnte er es zulassen, dass ihr Mann auf dem Weg von der Kirche nach Hause, also gewissermaßen im Dienst für seinen Herrn, so sinnlos ums Leben kommen konnte? In vielen Gebeten und seelsorgerlichen Gesprächen mit Ole hatte sie ihr Leid geklagt und Frieden für ihre Seele erbeten.

Sie ertrug es kaum, wenn jemand ständig von der unendlichen Liebe Gottes sprach, und sie verstand nicht, warum Ole ihr immer wieder riet, sie solle ihr Leid loslassen. Wie geht dieses Loslassen? Sie konnte es nicht. Nur im Lied, im Gesang spürte Inger Frieden, in der lyrischen Annäherung an Gott. Die Predigt am Sonntag hatte viele ihrer Wunden wieder aufgerissen, zeigte doch die Achan-Geschichte ebenso wie die von Ananias und Saphira ganz deutlich Gottes gelegentliche Grausamkeit, ja seine Mitleidlosigkeit gegenüber den Menschen und das sogar alles nur wegen einiger materieller Güter. Er gab ihnen keine zweite Chance, keine Möglichkeit zur Buße oder zur Vergebung, wie Christen nicht aufhören zu predigen. Achan, seine Frau, seine Kinder und seine ganze Sippe mussten sterben. Aus und Ende. Und ihr Mann, so dachte Inger, musste das auch, sogar ohne irgendetwas Falsches getan zu haben. Sie empfand dieses Handeln Gottes als zutiefst ungerecht, ja unbarmherzig. Sie verstand es nicht und fürchtete dennoch gleichzeitig, Gott Unrecht zu tun. Ihr Herz wollte ihn ja lieben, aber ihr Verstand säte manchmal Zweifel. Nicht immer, nein, aber an traurigen Tagen.
Sie weinte und das half ein wenig.


*

Das Leben in Lureby ging weiter. Und wenn die Zeit auch nicht alle Wunden heilt, so dämpft sie doch Schmerz und lässt ein schlechtes Gewissen abklingen. Am Samstag sah für Jonas das Leben schon wieder ganz anders aus und Inger suchte gewissenhaft einige Lieder für den Gottesdienst aus.
Der Sonntag kam und Kjell und Silja bereiteten sich darauf vor, zum nachmittäglichen „Godi“, wie sie ihn liebevoll nannten, zu gehen. Er war der Höhepunkt der Woche für sie in normalen Zeiten. "Normale Zeiten" bedeutete für Kjell: täglich zum Fischen zu gehen, auszuruhen, um dann wieder Fischen zu gehen. Für Silja war es die tägliche Hausarbeit, die Zubereitung der gemeinsamen Mahlzeiten und die wiederkehrenden Spaziergänge mit dem Hund, entweder das Tal weiter hinauf oder weiter hinunter. Am Wochenende oder wenn Kjell abends nach Hause kam, verbrachten beide, sofern es noch nicht dunkel war – und das wird es im hohen Norden früh – viel gemeinsame Zeit im Garten. Es war mehr ein Steingarten, denn Steine gab es dort viele. Aber zwischen ihnen gelang es den beiden unter großer Mühe, einige Kohlrabi, Mohrrüben und eine robuste Sorte Bohnen anzubauen. Ganz besonders stolz aber waren beide auf einige Blumenstauden, die erstaunlich kräftig wuchsen. Selbst ein Fliederbusch hatte es im Schatten des Hauses unter Siljas Pflege zu beträchtlichem Umfang gebracht.
Und so liebte es Silja, am Sonntag einen kleinen Blumenstrauß zu pflücken, ihn mit zur Kirche zu nehmen und in einer hübschen Vase vor das Rednerpult zu stellen. Sie tat diesen Dienst für Gott und hoffte, er würde sich ebenso wie sie und Kjell über die Blumen freuen. Es spiegelte sich stets eine gewisse Freude und Zufriedenheit auf Siljas Gesicht, wenn sie am Sonntag, nachdem sie die Blumen noch ein wenig geordnet hatte, vom Rednerpult zu ihrem Stammplatz in der vierten Reihe zu Arne und Torill, ihren Freunden, zurückging.
Torill war heute etwas aufgeregt, denn sie hatte sich vorgenommen, ein Glaubenszeugnis zu sagen. Da sie keine große Rednerin war, hatte sie sich ein paar Notizen gemacht, die sie nun mit zittriger Hand aus ihrer Tasche holte und kaum abwarten konnte, dass die "Ruhe für den Herrn" endete. Silja bemerkte ihre Unruhe und legte ihre Hand auf Torills Hand, die es ihr mit einem Lächeln dankte. Gerade wollte sie noch etwas sagen, als Odd Hansen mit seinem Harmonium machtvoll den Beginn des Gottesdienstes ankündigte. Nach dem Vorspiel wurde er leiser und leiser, bis dann ganz melodiös und fast zärtlich die Gemeinde einsetzte: „Din fred skal al
dri svike - Dein Frieden wird niemals versagen". Sie sangen alle voller Inbrunst, denn nichts wünschten sie sich an diesem Sonntagabend mehr, als dass der Friede Gottes tief in ihre Herzen drang und ihnen Kraft geben würde, die alte Woche hinter sich zu lassen und mit neuem Mut in die neue zu gehen. „Wenn uns Stürme treffen, lass uns Schutz finden.", sang Jonas aus vollem Herzen und versuchte, einen Blick von Linea zu erhaschen, die etwas verdeckt für ihn vor einer Holzsäule stand. Aber es gelang ihm nicht.
Inger war sehr ergriffen, denn sie fühlte sich vom Text direkt in ihrer Not angesprochen: „
In den Stunden der Einsamkeit, im schwersten Moment des Verlustes, wirst du bei uns bleiben, Herr, in jeder schmerzhafte Sekunde.“ Sie wusste, dass Odd die Lieder für den Gottesdienst bestimmte, aber es schien ihr, als habe heute Gott dieses Lied für sie ausgesucht, denn nur er konnte wissen, was sie in dieser Woche durchgemacht hatte. Gott, so dachte sie, du bist uns so nah, so überraschend aktuell in jeder unserer Situationen, ich danke dir dafür.
Wie nah und aktuell Gott in diesem Gottesdienst noch sein würde, ahnte zu diesem Zeitpunkt weder sie noch irgend ein anderer in der Gemeinde und so sangen sie aus tiefstem Herzen alle drei Strophen und es tat ihrer Freude keinen Abbruch, dass dieses Lied eigentlich bei Beerdigungen gesungen wurde, denn sie waren der Meinung, dass man als Christ jeden Tag etwas von seinem alten Menschen zu beerdigen habe.

20

Nach einem weiteren Lied war nun Torill mit ihrem Glaubenszeugnis an der Reihe. Sie stellte sich hinter das Rednerpult und begann etwas zögerlich: „Liebe Geschwister, ich möchte euch heute von Magnus, meinem Sohn, berichten, der ja schon seit einiger Zeit in Oslo lebt.“ Sie machte eine Pause, schluckte zwei Mal, denn sie war sehr aufgeregt. Jeder in der Kirche kannte Magnus. Er stammte aus Torills erster Ehe, die nur drei Jahre dauerte, dann ertrank ihr Mann auf See und sie musste sich 20 Jahre lang allein mit Magnus durchschlagen. Später lernte sie Arne kennen. Die beiden heirateten und Magnus zog nach Oslo. „Ihr wisst“, fuhr sie fort, „dass Magnus stets ein Sorgenkind für mich war, auch weil er in Oslo nur hin und wieder Jobs angenommen hat. Täglich war es mein Gebet, Gott möge ihm eine feste Arbeitsstelle geben. Und als Magnus mich vor zwei Wochen anrief und sagte, er sei zum Vorstellungsgespräch bei einer Einzelhandelsfirma eingeladen worden, die mehrere Arbeitskräfte suchte, war ich überglücklich über diesen Anruf und habe gleich Gott auf den Knien gedankt, dass er meine Gebete erhört hat.“ Wieder machte sie eine kleine Pause, räusperte sich, um dann mit fester Stimme fortzufahren: „Aber dann ruft mich Magnus drei Tage später an, er habe die Stelle doch nicht bekommen. Es habe zu viele Bewerber gegeben, so dass die Firma einige auswählen musste. Er war am Boden zerstört und ich zunächst auch. Aber ich habe verzweifelt um diese Arbeitsstelle weiter gebetet und Gott bestürmt, doch bitte ein Wunder zu tun. Was soll ich euch sagen, Gott hat ein Wunder getan. Schon am nächsten Tag rief Magnus mich an, er habe die Stelle doch noch bekommen, weil zwei der schon ausgewählten Arbeitskräfte abgesagt hätten und er auf ihren Platz nachrücken konnte. Ist das nicht toll?“, fragte Torill, um sich dann gleich zu verbessern, „Ist Gott nicht toll?“ - „Amen, danke Gott!“, riefen einige fröhlich oder „Halleluja“, und als Torill zu ihrem Platz zurückging, standen Kjell und Silja auf und umarmten sie kurz, denn sie wussten von Torills Ängsten vor öffentlichen Reden und wollten ihr Zeigen, sie habe ihre Sache gut gemacht.

*

Ja, es waren sehr liebe Menschen, die hier in Lureby in der Kirche zusammen saßen und ihren Gott lobten.

*

Von Torills Bericht noch ganz begeistert, stimmte Inger mit ihrer Gruppe den ersten Lobpreis Chorus an: „Gott ist so gut, Gott ist so gut, er ist so gut zu mir!“, erklang es jubelnd in dem kleinen Kirchlein. Es folgte: „Sing Halleluja“. Dann entstand eine kleine Pause. Inger wandte sich an die Gemeinde und bezeugte, sie sei durch das Lied "Din fred skal aldri svike", das Odd heute morgen ausgewählt habe, zutiefst angesprochen und gesegnet worden. Es habe ihr in Hinsicht auf eine schwierige Situation ihresLebens sehr geholfen!
Begeistert setzte der Chor seine Danksagung fort: „Dir gebührt die Ehre und Anbetung“. Zur zweiten Wiederholung fiel die Gemeinde mit ein und bei der dritten sangen alle stehend. „Wir erheben unsere Hände, wir erheben deinen Nam´“. Und jeder, aber auch jeder in der Gemeinde fühlte, was er sang und erhob sein Herz und seine Hände zu Gott.

Als sie sich wieder setzten, erschraken sie.
In der zweiten Reihe, vorne ganz links, saß jemand, den sie nicht kannten. Und obwohl sie nicht zu starren versuchten, starrten sie doch auf diesen fremden Mann, den keiner von ihnen je vorher gesehen hatte: untersetzt, schwarze, leicht gelichtete Haare auf einem rundlichen Kopf und kleiner als die meisten von ihnen. Vielleicht 1,70m groß, trug er – sehr ungewöhnlich für diese Gegend - einen dunkelbraunen Anzug mit beigem Hemd und mintgrüner Krawatte. Diese Eleganz befremdete die einfachen Leute von Lureby etwas.
Alle bewegte dieselbe Frage: Woher kam der Fremde? Wie war er hereingekommen und warum erschien er erst mitten im Gottesdienst? Wer fährt in dieser weltfernen Gegend viele Kilometer in eine Sackgasse, um an deren Ende einen Gottesdienst zu besuchen?
Noch ehe sie sich darüber den Kopf zerbrechen konnten, fragte Ole Einar – er hatte den Fremden noch gar nicht bemerkt, denn er saß als Pastor stets in der ersten Reihe direkt vor dem schlichten silbernen Kreuz – in den Raum hinein, ob jemand einen Eindruck von Gott erhalten habe. Als weder Eline noch Kari oder irgend ein anderer nach Vorne kam, drehte er sich zu seiner Gemeinde um und bemerkte den fremden Mann und damit den Grund für die mangelnde Resonanz auf seinen Aufruf. Er verbarg sein Erstaunen, trat ans Rednerpult und begann in gewohnter Weise:
Der Herr hat mir für heute eine wichtige Botschaft aufs Herz gelegt und mir gezeigt, was ich euch heute lehren soll!“ Es folgte eine gut ausgearbeitete und Mut machende Predigt, denn Ole war der Meinung, man müsse dem strafenden Gott des Alten stets den liebenden Gott des Neuen Testamentes gegenüberstellen. So ging es heute um Zachäus, einen geldgierigen Verräter seines Volkes, der durch die Liebe Jesu zu einem neuen Menschen wird.
Zwar versuchte die Gemeinde auch an diesem Sonntag aufmerksam seinen Worten zu folgen, aber dennoch bemerkte Ole, dass sie nicht so an seinen Lippen klebte, wie sie es sonst zu tun pflegte. Immer wieder gingen Blicke zu dem fremden Mann und man spürte im Raum neben dem heiligen Geist auch den Geist der Neugier. Ole beendete seine Predigt mit den Worten: „Lasst uns in die neue Woche gehen in der Gewissheit der großen Liebe unseres Gottes, die sich in der Kraft seiner Vergebung offenbart. Er will und wird Neues schaffen – auch hier bei uns in Lureby - und er möge uns seinen tiefen Frieden in unsere Herzen geben!“
Das war Balsam für Jonas und Ingers Seele und Knut Hanson musste trotz seiner Schwerhörigkeit etwas von der Predigt mitbekommen haben, denn er rief laut: „Amen, Halleluja!“
Nun stand Anders auf, ging bedächtiger als sonst zum Pult, machte seine kritischen Anmerkungen zur Predigt, indem er die Gemeinde darauf hin wies, dass Jesus den Zachäus zwar von der Geldgier befreit habe, dieser aber dennoch ein Verräter seinen Volkes, ein Kollaborateur
mit den Römern, geblieben sei, denn in der Bibel stünde nirgends zu lesen, dass er auch seinen Beruf aufgegeben habe. Und übrigens dürfe niemand die Liebe Gottes zu uns Menschen als billige Entschuldigung für seine Sünden missbrauchen. Einigen in der Kirche war es ein wenig peinlich, was Anders in seiner Predigtkritik vorbrachte, und sie schauten immer wieder verstohlen zu dem Fremden hinüber. Der aber saß weiterhin freundlich lächelnd auf seinem Platz und schien Gefallen am Gottesdienst zu haben.
Lasse, der Schwede, holte den Klingelbeutel und reichte ihn während des Vorspiels zum Abschlusslied herum. Wie sich später herausstellte, hatten einige beobachtet, dass der fremde Mann den Beutel an sich vorbeigehen ließ, ohne etwas hineinzutun.
Ja, den Leuten von Lureby blieb nichts verborgen.
Aus vollem Herzen sangen sie noch das Segenslied: „Herr, wir bitten, komm und segne uns!“ und erhoben sich von ihren Plätzen. Ole segnete seine Schar. Nach der „Stille für den Herrn“ strömte man zum Kaffeetrinken und zum Büchertisch, nicht ohne hin und wieder einen Blick auf den Fremden zu werfen. Der legte gerade das Liederbuch zurück auf die Bank und wandte sich dem Mittelgang zu, als Ole auf ihn zutrat und ihm zur Begrüßung die Hand reichte. Sie sahen, wie die beiden offenbar einige Worte wechselten.
Und sie sahen mit Schrecken, dass Ole plötzlich die Arme sinken ließ, kreidebleich wurde und sich an der Kirchenbank festzuhalten versuchte, während der Fremde freundlich lächelnd nach links und rechts grüßend, die Kirche verließ. Ole stand immer noch wie angewurzelt in der zweiten Bankreihe und klammerte sich an die Banklehne. Schweiß stand auf seiner Stirn, er begann zu schwanken und sich langsam auf die Kirchenbank niederzulassen. Besorgt liefen seine Schäfchen zu ihm, denn noch nie hatten sie ihren Pastor in einem solchen Zustand gesehen. Sie sammelten sich im Kreis um ihn herum und jeder wollte wissen, was geschehen war.

Nur mühselig brachte es Ole heraus: „Ich habe ihn gefragt, wer er ist und was ihn in diese einsame Gegend verschlagen hat.“ Ole fiel es sichtlich schwer weiterzusprechen. „Was hat er gesagt, komm, sag es uns. So schwer kann es doch nicht sein“, riefen Eline und Kari ungeduldig. Auch andere bedrängten ihn. Endlich brachte Ole es heraus. „Er hat gesagt, er sei Gott und er wolle hier seine Kinder besuchen.“, stammelte er.
Erschrocken setzten sich einige. Als erster fing sich Jonas, klopfte Ole auf die Schulter und lachte laut los: „Also der Kerl heißt wahrscheinlich mit Nachnamen „Gott“, rief er, „Es gab da mal so einen tschechischen Sänger, der hieß so, und wer weiß, vielleicht sind ja die Heiden seine Kinder.“ - „Oder er ist ein ein Atheist und hat sich einen Spaß mit dir gemacht, Ole. Nimm es nicht so ernst“, meinte Arne. "Es gibt komische Leute!" - „Wie ein Spaßvogel sah der eigentlich nicht gerade aus in seinem schicken Anzug“, warf Sofie ein, „und beim Rausgehen hat er ganz freundlich gelächelt. Also ich fand ihn eigentlich ganz nett.“ - „Aber wie ist er überhaupt hereingekommen? Hat einer von euch etwas bemerkt?“, schaltete sich Kjell ein, „dieses plötzliche Erscheinen war doch schon etwas merkwürdig, oder?.“ - „Und wenn es doch Gott war?“, gab Rafna zu bedenken. „Nie und nimmer!“, riefen Eline und Kari wie aus einem Mund, „so sieht Gott nicht aus! Niemals! Wir haben ihn schließlich schon oft im Geiste gesehen!“ So diskutierten und gestikulierten sie alle eine Weile durcheinander, bis Ole all dem mit ungewöhnlich scharfer und lauter Stimme ein Ende setzte.
„Ruhe!“, brüllte er. Er war aufgestanden. Sie hatten ihn ganz vergessen, so sehr waren sie mit ihren Vermutungen beschäftigt. „Seid endlich still, einfach nur still und merkt, was ich euch als euer Pastor sage:
Es w a r G o t t !“
Sie erschraken und verstummten zugleich. Und zum Beweis seiner Aussage hob Ole seine rechte Hand und öffnete sie. Zum Vorschein kamen zwei kleine miteinander verbundene Bügelschlösser. Sie waren rostig braun, schlüssellos und offenbar seit Jahren nicht benutzt worden. Ole atmete schwer und sagte mit belegter Stimme: „Diese Schlösser haben meine Frau und ich vor vielen Jahrzehnten auf einer Fahrt mit der Fähre nach Bergen als ewig andauerndes Zeichen unserer Liebe vor Alesund ins Meer geworfen.“ Ole musste sich wieder setzen. Seine Knie zitterten, denn ein leichter Schwindel hatte ihn ergriffen.

Keiner wagte es etwas zu sagen, ihre Gedanken waren ein einziges Auf und Ab, sie standen verloren wie ein Häuflein verstörter, hilfloser Schäfchen in ihrer kleinen Dorfkirche, die ihnen so oft Schutz und Frieden geboten hatte, nun aber zu einem Ort der Unsicherheit und des Erschreckens geworden war. Konnte das wirklich Gott gewesen sein? Wie sonst kamen die Liebesschlösser vom Meeresgrund in Oles Hand?
Endlich - niemand wusste so genau, wie viel Zeit vergangen war - bat Ole darum, man möge ihn nach Hause bringen, er müsse über die ganze Sache nachdenken und würde sich bei ihnen melden. Und er schärfte ihnen ein, dass niemand, aber bitte wirklich niemand irgend jemandem von diesem Ereignis berichten solle.
Sie gingen dann wie betäubt ein jeder in sein Zuhause und taten, worum er sie gebeten hatte.

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Denn wie sollten es diese einfachen Menschen von Lureby auch begreifen: Gott war heute bei ihnen im Gottesdienst gewesen.

*

In seinem Arbeitszimmer fiel Ole auf seine Knie und fragte Gott im Gebet: „Bist du es gewesen Herr?“
Und der Herr antwortete ihm: „Ja, ich war es!“
So oft Ole auch fragte, er bekam stets die gleiche Antwort. Nie war eine Antwort Gottes so klar und unmissverständlich ausgefallen wie heute.
Alles drehte sich in Oles Kopf und es fühlte sich für ihn an, als wäre aller Verstand und jede Kraft von ihm gewichen. Vor ihm lagen die beiden verbundenen Schlösser. Woher sollten sie sonst kommen? grübelte er. Hatte er damals vielleicht jemandem von der Sache erzählt und der würde ihm nun einen Streich spielen?
Und warum antwortete Gott ihm so prompt im Gebet? Wie oft hatte er Antworten von Gott erfleht, aber keine bekommen. Dieses Ereignis überstieg seinen Verstand und auch seinen Glauben.

Schlaf konnte er in dieser und den nächsten Nächten nicht finden, er fühlte sich leer, hilflos und zerschlagen. Frage um Frage jagte durch seinen Kopf. Warum kam Gott ausgerechnet hierher in die Einsamkeit des Nordens? Warum jetzt? Warum zu ihnen? Warum hatte er so wenig gesagt? Was waren Gottes Absichten? Er fand keine Ruhe und erst nach und nach, wenn er an die Freundlichkeit dieses kleinen Mannes dachte, wuchs sein Vertrauen wieder.
Wie man das Geschehen auch drehte und wendete, eines blieb klar: Gott selbst hatte sie in ihrer Gemeinde in Lureby besucht. Die Frage war nur, würde er wiederkommen? Gerne hätte Ole mit einigen anderen weiter weg wohnenden Pastoren über diese Sache gesprochen, aber das war ja nicht möglich. Hätte ihn nicht jeder für krank im Geiste gehalten, wenn er von seinem Erlebnis berichten würde? Selbst, wenn man seinen Worten Glauben schenken würde, wäre ihm nicht geholfen, denn dann würden die Christen am nächsten Sonntag zu Tausenden aus dem Süden anreisen und es wäre vorbei mit dem Frieden in der kleinen Gemeinde von Lureby. Er erinnerte sich an eine Gemeinde in Oslo, in der es einige spektakuläre Heilungen gegeben hatte. Aus ganz Norwegen waren die Leute angereist, um auch geheilt zu werden oder wenigstens dabei zu sein, wenn andere gesund wurden. Eine riesige angemietete Fabrikhalle reichte damals nicht aus, die vielen Gläubigen zu beherbergen. Solche Hallen gab es in Lureby gar nicht und es war Ole sofort klar, vor einem solchem Ansturm müsse er seine Gemeinde schützen. Niemand dürfe wissen, dass Gott bei ihnen in Lureby im Gottesdienst gewesen war.
Als aber seine Unruhe nicht nachließ, griff Ole zum Telefon um Anders anzurufen und ihn zu fragen, was er von der Sache halte.
Anders sagte ihm, er und seine Frau Bjorg könnten immer noch nicht glauben, was da geschehen sein soll und sie stünden der ganzen Sache skeptisch gegenüber, denn sie sei höchst unbiblisch. Nirgendwo in der heiligen Schrift stehe zu lesen, dass Gott jemals sichtbar bei Menschen auf der Erde auftauchen würde, außer vielleicht in Jesus Christus, aber das sei ja über 2000 Jahre her. Nicht einmal im Buch der Offenbarung gäbe es einen Hinweis auf ein Erscheinen Gottes im Norden der Erde.

Ganz im Gegenteil spräche die Bibel eher von einem Verbergen Gottes, z.B. sagt Gott im 2.Mose 33:20: >Du kannst mein Gesicht nicht sehen, denn kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben.< Und in 1.Johannes 4:12 heißt es: >Niemand hat Gott je gesehen< und im Timotheusbrief 1:17 wird Gott als >der König der Ewigkeit, der unvergängliche, unsichtbare, alleinige Gott< bezeichnet. Mit „unsichtbar“ sei doch alles gesagt, behauptete Anders. „Ich weiß nicht“, entgegnete Ole, „ in der Bibel steht doch auch „Und der HERR erschien ihm (Abraham) im Hain von Mamre >….als er seine Augen aufhob, siehe, da standen drei Männer vor ihm.< 1.Mose 18:1-3 Da hat Gott doch mit Abraham gesprochen und sogar mit ihm gegessen. Gott kann eben jede Gestalt annehmen; bei Abraham sah er aus wie drei Männer und hier bei uns wie ein freundlicher älterer Herr!“ - „Nein Ole, das siehst du falsch, Gott ist Abraham in drei Engelsgestalten erschienen, sonst würden ja die anderen Bibelworte nicht stimmen.....“
Ja, Anders hatte eine große Bibelkenntnis, aber die war in diesem Fall nicht besonders hilfreich.


Und so wie Ole und Anders erging es den übrigen Gotteskindern in Lureby auch. Es wurde diskutiert, gestritten, vermutet und gebetet, wie schon lange nicht mehr.
Der Frieden war von dem kleinen Ort gewichen, nein, nicht von den Heiden, denn die wussten ja nichts von Gott.
Jedem fiel sein Tagwerk in dieser Woche schwer. Immer wieder kreisten die Gedanken darum, ob das Unglaubliche wahr sein und sich am nächsten Sonntag wiederholen würde.

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Besonders schwer hatte es Jonas. Er sah im Erscheinen Gottes die logische Fortsetzung dessen, was er schon nach der Achan-Geschichte empfunden hatte, an deren Ende Gott ganz plötzlich mit Josua spricht und die Aufdeckung von Achans Sünde einleitet. Und nun war Gott ganz persönlich nach Lureby gekommen, um vor der ganzen Gemeinde seine, Jonas, Sünde aufzudecken. Er fühlte sich alleingelassen, völlig verloren, wie gelähmt und war nicht imstande, irgend etwas an seiner Situation zu ändern. Mit wem sollte er auch darüber reden, ohne sich und Linea zu verraten? Und auch mit ihr war ein Gespräch nicht möglich, wollte er sie nicht mit seinen Befürchtungen belasten. Sie sah die Sache ja offenbar anders. Wie groß musste seine Sünde sein, dass Gott selbst nach Lureby kam , um seine Gemeinde von ihr zu reinigen. Er war überzeugt, der Herr würde am nächsten Sonntag wieder im Gottesdienst sein und dann alles ans Licht bringen. Und so rief er am Freitag Abend Ole an und sagte, er könne am Sonntag nicht zum Gottesdienst kommen, er fühle sich schlecht – was ja im doppelten Wortsinn auch stimmte – und er würde zu Hause bleiben.

30

Etwas verwundert war Ole, dass sich auch Arne, sein Ältester, und Torill, seine Frau vom Gottesdienst abmeldeten. Beide hatten schon länger miteinander über die Lieder gesprochen, die sie Sonntag für Sonntag in der Gemeinde sangen. „Ich lieb dich, Herr, keiner ist wie du“ oder „ich habe noch nie eine Liebe, wie die deine gefunden.“ Ehrlich, wie die beiden nun einmal waren, stellten sie fest, dass eine so gewaltige Liebe sie nicht mit Gott verband. Sie hatten sich untereinander sehr lieb, ebenso Magnus, Torills Sohn, und natürlich auch ihre Gemeinde, aber ihre Liebe zu Gott war irgendwie anders, unwirklicher, weniger intensiv und eher abstrakt. So wollten sie, falls Gott wieder in den Gottesdienst käme, ihm nicht etwas aus lauter Gewohnheit vorsingen, was nicht der Wahrheit entsprach.

Nein, Gott ins Gesicht lügen wollten sie beide ganz und gar nicht. Es war schon schlimm genug, es in der Vergangenheit oft getan zu haben. So entschlossen auch sie sich, lieber daheim zu bleiben.
Ole wusste nicht recht, was er davon halten sollte.

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Noch anderer Art waren die Probleme die das Erscheinen Gottes bei Kjell und Silje ausgelöst hatte. Am Donnerstag schon bemerkte Kjell, dass Silje seinen alten, seit vielen Jahren nicht mehr getragenen Anzug zum Lüften vor das Haus gehängt hatte. „Soll ich den am Sonntag etwa anziehen?“, maulte er, „du weißt genau, ich hasse es, mich mit einem Anzug zu verkleiden. Gott sieht nicht auf unser Äußeres, das ist ihm gleich, er sieht das Herz an!“ - „Wie schön du das gesagt hast, mein lieber Mann, aber hast du gesehen, was Gott am Sonntag an hatte?“, erwiderte Silje, „Sein Anzug war nicht von schlechten Eltern, und obwohl ich noch gar nicht wusste, dass der Besucher Gott war, habe ich mich vor dem Fremden geschämt, dass wir alle so mit unseren Alltagssachen da saßen. Als ob es bei uns nichts anderes gibt als Norwegerpullover!“ Kjell wollte etwas einwenden, kam aber nicht zum Zug, denn Silje fuhr fort: „Und was hattest du an, mein lieber Mann, als sie dir in der Kreisstadt den Fischereiorden verliehen haben? Einen Norwegerpullover? Nein, ihr Fischer habt euch schön herausgeputzt, als der Fischereimeister euch den Orden überreichen sollte. Und nun frage ich dich, ist Gott etwa weniger wert als ein Fischereimeister?“ Es half nichts, wohl oder übel musste Kjell am nächsten Sonntag einen Anzug anziehen, damit er nicht zu sehr von seiner Frau abstach, die noch ein Festtagskleid im Schrank gefunden hatte, in das sie zwar nicht mehr so ganz hineinpasste, aber es schien ihr für den Anlass allemal besser geeignet zu sein als ihre Alltagskleidung. Nein, Gott sollte sich, wenn er denn käme, wohlfühlen in ihrer Gemeinde auch, was die Kleidung betraf.

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Rafnas und Sussu Probleme waren ähnlich. Wenn Gott jetzt vielleicht noch einmal oder gar des öfteren in ihre Kirche kam, wollten sie ihre Samitracht anlegen, wunderschöne, sehr teure Kleidungsstücke, die einen Teil ihrer Kultur ausmachten. Sie fühlten sich als Botschafterinnen ihres Volkes und wollten so Gottes Aufmerksamkeit erregen. Sie wünschten sich sehnlichst, dass er käme und ihre Tracht bewundern würde.
Dass Gott sie weiterhin besuchen würde, wünschte sich auch Odd Hansen. Er schämte sich zwar ein wenig des alten Harmoniums und seines mangelhaften Spiels, aber Gottes Herz war in seinen Augen groß und weit, ER würde daran gewiss keinen Anstoß nehmen. Und so plante er etwas ganz Besonderes. Wenn Anders am Sonntag den Lobpreis wieder mit der Gitarre begleitete, würde er die Melodie von >Alles will ich Jesus weihen< auf der Fadno spielen, dem einzigen samischen Melodieinstrument. Es wird aus dem grünen Stengel des Engelwurzes geschnitten und hat nur eine Lebensdauer von wenigen Tagen. Von welchem Musikinstrument dieser Welt könne man das schon sagen? Odd war stolz, Gott einen so seltenen Kunstgenuss bieten zu können, denn nur wenigen war es vergönnt, ein solches Instrument bauen und dann auch noch spielen zu können Er beschaffte sich einen Engelwurzstengel, schnitzte ihn zu einer etwa 40 cm langen Flöte und begann zu üben. Gott würde begeistert sein.

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Am Samstag hatte Ole seine Predigt immer noch nicht fertig. Für ihn war ganz klar, wenn Gott in seiner Kirche saß, dann müsse Gott auch predigen. Was habe er, Ole, der Gemeinde auch schon zu sagen? Nein, Gott ist nun mal unser Herr und ihm sollen wir zuhören und nicht einem einfachen Prediger wie mir, dachte er. Zumindest müsse er Gott anbieten, das Wort zu ergreifen. Aber was wäre, wenn Gott zu ihm sagen würde, mach du mal Ole Einar Björndalen? Dann konnte er doch nicht unvorbereitet sein. Aber worüber nur predigt man in Anwesenheit Gottes? Immer wieder in den letzten Jahren hatte er mit seinen Predigtthemen gerungen und Gott hatte ihm gute Gedanken, Impulse und Anstöße gegeben, aber was hatte er jetzt unter diesen Umständen seiner Gemeinde zu sagen? Waren die guten Gedanken vergangener Sonntage wirklich Gottes Gedanken gewesen?
Oder hatte er s e i n e Gedanken zu Gottes Gedanken gemacht? Wie konnte er sich anmaßen, vor Gott hinzutreten und Sätze zu sagen wie: „Der Herr hat mir gezeigt“ oder „Gott will, dass wir das und das tun“ oder „Gott hat mir dabei geholfen, dass...“ oder „Ich weiß, dass das und das Gottes Wille ist.“? Woher wusste er, Ole Einar Björndalen schon, was Gott will, denkt oder fühlt? Aus dem Wort Gottes? Durch den Heiligen Geist? Aber dann müssten ja alle Kirchen und Gemeinden den gleichen Glauben haben und nicht irgendeine Interpretation davon. Und unvermittelt kam ihm auch noch Hebräer 13:17 in den Sinn, wo davon die Rede ist, dass die Pastoren über die S
eelen der ihnen Anvertrauten wachen sollen und „dafür Rechenschaft geben müssen". Ob Gott gleich nach dem Gottesdienst Rechenschaft von ihm verlangen würde?
W o r ü b e r nur sollte er predigen? Würde eine Predigt über einen strafenden Gott diesen beleidigen? Und wäre eine Predigt über Gottes vergebende Liebe nicht genau so angreifbar,
wenn Gott eben nicht alles so folgenlos vergibt, wie Menschen es gerne glauben?
Ole machte, was er immer in seinem Leben tat, wenn er mal nicht weiter wusste. Er ging auf seine Knie und betete. Er rang mit sich und mit Gott und beendete schließlich das Gebet mit dem Satz: „Ich danke dir Gott, dass du mir hilfst.“ Als er sich erhob und an den Schreibtisch setzte, wusste er, was er für den kommenden Sonntag vorbereiten würde: eine Predigt über die Dankbarkeit, die wir Menschen der Hilfe Gottes schulden. Das schien ihm eine unverfängliche Botschaft zu sein, gegen die Gott gewiss nichts einzuwenden habe, dachte sich Ole Einar.

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Eline und Kari hingegen waren tief enttäuscht von dem angeblichen Besuch des HERRN in ihrer Kirche. Sie hatten in so vielen Visionen Jesus und Gott auf dem Thron geschaut, aber so wie der Fremde in der Kirche hatte weder Gott noch sein Sohn jemals ausgesehen. Jesus war in ihren Augen ein schlanker, großer Mann mit lieben braunen Augen, die immer lächelten. Er besaß schulterlanges wallendes Haar und trug ausladende Gewänder. Gott selbst war ein älterer Bartträger, liebevoll, majestätisch aber dennoch gütig. Sie hatten vor Jahren einen Film über Jesus gesehen und seitdem verehrten sie beide in ihren Visionen und Träumen einen so gut aussehenden Jesus, wie ihn der Titelheld des Filmes verkörpert hatte.
Anders hatte mal als Reaktion auf eine ihrer Visionen gesagt, in der Bibel stünde in der Prophezeiung des Jesaja 53,2 über Jesus: >Er hatte keine Gestalt noch Schöne; wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte.< Diese Verse hatten ihnen gar nicht gefallen und sie hatten sie so schnell wie möglich wieder verdrängt. Da sie beide keinen Partner hatten, gaben sie sich besonders in der Lobpreiszeit ganz der Verehrung dieses gut aussehenden Jesu hin, aber nicht einem Gott, der klein, rundlich und ganz und gar nicht majestätisch war. Ja, sie stritten darüber, ob man so einen gewöhnlichen daherkommenden Gott im Lobpreis überhaupt anbeten könne. Eline fürchtete, wenn sie in Zukunft immer diesen kleinen Fremden vor ihrem inneren Auge sähe, würde das bei ihr jede Lobpreisstimmung zerstören. Kari hingegen meinte, sie dürften sich nicht so sehr von menschlichen Gefühlen und Gedanken leiten lassen. Ihr Problem sei viel mehr, dass sie der Gemeinde Jahr für Jahr Visionen und Botschaften von Gott übermittelt hätten und nun stellte sich heraus, dass Gott ganz anders aussieht als in ihren Visionen. Und was wäre, wenn ihre Botschaften ebenso falsch wie ihr Gottesbild gewesen waren? Das sei so peinlich, jammerte sie, sie wolle ihren Geschwistern in der Gemeinde erst einmal nicht mehr unter die Augen treten.
So beschlossen auch die Schwestern, am nächsten Sonntag zu Hause zu bleiben. Als sie sich bei Ole abmeldeten, vereinbarten sie gleich einen Termin für ein seelsorgerliches Gespräch in der kommenden Woche.
Ole wusste gar nicht, wie ihm geschah, hatten sich nun schon fünf seiner Schäflein vom nächsten Gottesdienst abgemeldet. Das kam sonst nur vor, wenn im Winter das Fieber der Erkältung den einsamen Ort heimsuchte.
Gut, dass schon morgen Sonntag ist, wer weiß, wer sonst noch alles daheim bleiben würde, dachte er und ging in die Küche, um sich Wasser für einen Tee aufzusetzen.

*

Am nächsten Tag machte sich Ole zeitig auf, um in die Kirche zu eilen. Er fühlte sich, als ginge er zu einer wichtigen Prüfung. So klopfte sein Herz und seine Hand zitterte, als er die alte Kirchtür öffnete.
Das Harmonium, auf dem Odd übte, jubelte ihm entgegen: „Min Jesus, lad mit hjerte få...“ (Mein Jesus, lass mein Herz dich schmecken...). Ole blieb erschrocken stehen und sah sich verwundert um. So hatte er seine Gemeinde schon lange nicht mehr gesehen: Alle saßen bereits auf ihren Plätzen und waren festlich wie zu einer Hochzeit gekleidet, außer Lasse, der Schwede, der ausgerechnet heute einen Norwegerpullover trug, obwohl er ja ein Schwede war. Raffna und Sussu hatten ihre samische Tracht angelegt und alle Männer, außer eben Lasse, trugen Anzüge, die ihnen zwar nicht perfekt passten, aber schön anzusehen waren und viel zur feierlichen Stimmung beitrugen. Einige drehten sich erwartungsvoll um, als sie Ole die Kirche betreten hörten und wandten sich enttäuscht wieder ab, als sie bemerkten, dass es nur ihr Pastor war, der hereingekommen war.
Ole schaute auf seine Uhr, gab Odd ein Zeichen und der setzte pünktlich mit dem Begrüßungschoral ein. Zunächst erklang das Vorspiel, dann der Gesang, nicht so brausend und kräftig wie sonst, schließlich fehlten ja die fünf Stimmen der Daheimgebliebenen. Hin und wieder schauten einige zur zweiten Bankreihe hinüber, aber sie war leer. ER war nicht da. Ob ER kommen würde? Die Herzen in Lureby schlugen höher als sonst. Sie fürchteten sich ein wenig vor dem, was passieren könnte, wünschten es aber gleichzeitig sehnlichst herbei, so wie man sich vor dem Feuer fürchtet, aber die Blicke nicht von dem brennenden Haus wenden kann.
In der vierten Strophe des Eingangschorals sangen alle aus ganzem Herzen: „Führe mich armen Sünder heim nach deiner Gerechtigkeit zu deinem neuen Jerusalem, zu all deiner Herrlichkeit!" Bei „neuem Jerusalem" gab das Harmonium kurz einen knarzenden Ton von sich, alle schauten erschrocken zu Odd, der aber unbeirrt weiterspielte.
Als sie wieder zum Altar blickten, erschraken sie..
In der zweiten Reihe, links außen, saß Gott. Und wie vor einer Woche drehte er sich halb zu ihnen um, lächelte, nickte ihnen zu und schaute dann wie sie nach vorn zum Altar offenbar in Erwartung eines segensreichen Gottesdienstes.
Ole zweifelte, ob heute unter diesen Umständen jemand ein Glaubenszeugnis sagen würde und war erstaunt, als Odd Hansen seinen Platz an der Orgel verließ und nach vorne schlurfte. Obwohl er blind war, kannte er jeden Durchgang, jede Bankreihe und Stufe in der Kirche genau und fand ohne jemandes Hilfe das Rednerpult. Die Spannung in der Kirche wuchs, denn alle fragten sich, was er zu sagen habe. Wusste er überhaupt, dass Gott schon gekommen war? Wie sollte er es wissen, da er doch blind war?
Odd begann: „Liebe Geschwister, wie ihn wisst, hat Inger uns am letzten Sonntag erzählt, ein Lied, das ich ausgewählt habe, sei ihr zum großen Segen geworden. Mich hat das sehr erfreut, denn eine derartige Rückmeldung bekommt man nicht so oft." Wie meint er das mit den Rückmeldungen, dachten einige, war das Kritik an der eigenen Gemeinde in Gottes Anwesenheit? Wie unangenehm! Aber Odd fuhr schon fort: „Manches Mal weiß ich gar nicht, welche Lieder ich heraussuchen soll, welche gerade die richtigen und wichtigen für euch sind, und Gott hilft mir auch nicht immer dabei." Ein Räuspern ging durch die Gemeinde, und Odd machte eine kleine Pause, bevor er den letzten Satz vollendete „aber am letzten Sonntag hat er geholfen. Das Lied, das Inger so erbaulich fand, war aus einem Stapel Notenblätter gerutscht und so habe ich es einfach zu denen gelegt, die ich zum Singen für uns herausgelegt hatte. Gott hat es ausgesucht und Inger wurde gesegnet, dafür sei IHM Dank gebracht!", rief er und merkte noch an: „Ihr wisst, dass mir Erweckung stets auf dem Herzen liegt. Ich bete schon so lange und weiß nicht, ob Gott meine und unsere Gebete erhören wird. Aber wir sollten die Heiden nicht vergessen." Sprach`s und schlurfte zu seinem Stuhl zurück. Die Gemeinde saß wie gelähmt. Kritik im Angesicht Gottes? Einige hatten bei Odds Worten zu Gott hinüber geschaut, aber der lauschte freundlich lächelnd dessen Ausführungen.
Aber es beruhigte sie, dass sich jetzt Inger und der Chor erhoben. Musik ist ja viel unverfänglicher, als Worte es sein können, dachten sie. Andres und Odd nahmen ihre Instrumente und begannen mit dem Vorspiel. Gitarre und Fadno zusammen zu hören, war auch für die Leute in Lureby immer wieder ein Genuss. Dann setzte der
Chor ein: „Alles will ich Jesu weihen, meines Geistes beste Kraft. All mein Denken, all mein Streben, alles, was mein Tagwerk schafft. Alles will ich weihen!" Bjorg, Anders Frau, war verunsichert. Was singe ich da, schoss es ihr durch den Kopf, da vor mir sitzt Gott, schaut mich an und ich verspreche ihm ins Gesicht, ich würde ihm meines Geistes beste Kraft weihen. Spontan hörte sie auf zu singen. Wann bitte tue ich das? Etwa wenn ich mit meiner Freundin Torill über den neuesten Klatsch rede oder wenn ich mir abends einen Liebesfilm im Fernsehen ansehe? Und das Schaffen meines Tagwerks gilt doch allein mir und Anders, es dient unserem Broterwerb wie bei jedem anderen Menschen auch. Also was weihe ich da Jesus oder habe es ihm geweiht?
Und so wie Bjorg erging es auch Torill und offenbar einigen anderen. Sie hatten ihre Schwierigkeiten mit diesem Lied. So sangen sie zögerlicher als sonst, unkonzentrierter und wurden leiser und leiser. Als Dirigentin versuchte Inger ihre Schar anzufeuern, aber die sang nur unsicher weiter:
Dass ich nur voll Geistes werde, allen Eigenlebens bar; Glanz und Güter dieser Erde, fahret hin für immerdar." Sie spürten, dass keiner von ihnen das je in seinem Leben verwirklicht hatte oder hatte verwirklichen wollen: Sie kannten sich in Lureby seit Jahren und niemand von ihnen hatte die Absicht, seine eher bescheidenen Güter zu verkaufen und das Geld dem Herrn zu geben. Vor Jahren war mal ein Bruder aus Bergen bei ihnen zu Besuch gewesen und hatte berichtet, dass zwei Familien in Deutschland, in Hamburg, ihre Häuser verkauft und von dem Geld eine Kirche gebaut hätten. Diese habe Gott, der Herr, dann mit Menschen gefüllt und sie habe heute über 800 Mitglieder. Sie hatten diese Geschichte großartig gefunden und waren sehr ergriffen von der kleinen Erweckung im fernen Hamburg. Aberso zu handeln, schien ihnen doch etwas extrem zu sein. Und extrem wollten sie auf gar keinen Fall sein, darin waren sich die Leute in Lureby schon damals einig gewesen.
Aber gerade deswegen war es ihnen jetzt nicht möglich, unmittelbar vor Gott zu stehen und ihm das Gelübbte, ihm alles weihen zu wollen, zuzusingen. Das wäre doch eine Lüge! Mühevoll, mit zittrigen Stimmen erreichten die Sänger des Kirchenchores das Ende der vorletzten Strophe. Ihre Stimmen verebbten und mitten in der letzten Strophe sangen sie unter dem Druck ihres Gewissens nicht weiter, ganz gleich wie entsetzt Inger sie anstarrte und welche Zeichen sie ihnen gab. Es ging einfach nicht und sie verstummten.
So mussten Odd und Andres spontan die Situation retten, indem sie die letzte Strophe instrumental spielten. Der nächste Chorus hieß „Komm in unsere Mitte oh Herr!“ Dieses Lied schien ihnen unverfänglicher, neutraler zu sein; nur Anders fürchtete, dass es für diesen Gottesdienst ganz und gar nicht passte, denn Gott sei ja schon da. Überhaupt sei das Lied, seiner Meinung nach, kompletter Unsinn, denn Gott sei überall.anwesend, wo zwei oder drei sich in seinem Namen versammeln würden. Ihn extra einzuladen, zeige nur den Unglauben der Sänger.

40


Es folgte ein Lieblingschorus der Gemeinde: „Dir gebührt die Ehre und Anbetung, wir erheben unsere Hände, wir erheben deinen Nam´", an dieser Stelle schauten gewohnheitsmäßig alle nach oben und erhoben ihre Hände und Augen zum Kirchendach in der Meinung, Gott würde ja vom Himmel auf sie herabschauen und sie wollten ihm entgegen jubeln. Als dieser Liedtext nahte, schüttelte Inger heftig den Kopf, um der Gemeinde ein Zeichen zu geben, dass dies heute die falsche Blickrichtung sei, daher ließ sie Hände und Augen gesenkt, drehte sich demonstrativ um und streckte ihre Arme dem kleinen Mann in der zweiten Bankreihe entgegen. Das war zwar folgerichtig, brachte aber die verunsicherte Gemeinde vollends durcheinander. Einige verstanden nicht und hoben die Hände zur Kirchendecke. Andere taten es Inger gleich und streckten sie Gott entgegen, wieder andere ließen sie lieber verzweifelt sinken, denn sie wussten gar nicht mehr, was sie tun oder denken sollten. Wie anstrengend es doch ist, Gott im Gottesdienst zu haben, dachten sie und waren froh, als sie das Lied bis zum Ende gesungen hatten und sie sich setzen konnten.

Ole atmete dreimal schwer, erhob sich dann, ging hinüber zur zweiten Bankreihe und fragte Gott leise, ob er nicht selbst zu ihnen sprechen wolle. Es sei doch seine Gemeinde und sie alle wären gespannt auf das, was er ihnen zu sagen habe. Aber Gott schüttelte den Kopf und antwortete ihm ebenso leise: „ M
ach du mal, Ole Einar Björndalen. Es ist schon richtig, was du vorbereitet hast!“
So ging Ole verzagt und viel langsamer als sonst zum Pult und las Worte aus dem Lukasevangelium 17, die Verse 11-19. Dort findet sich die Geschichte von den zehn Aussätzigen, die Jesus geheilt hat, von denen aber nur einer zu ihm zurückkehrte, um sich zu bedanken. Ole schaute in seine Gemeinde, atmete tief und begann: „Für heute habe ich ein Wort aus der Schrift herausgesucht...“ Irritiert sahen sich einige an und fragten sich, warum er nicht wie seit über 15 Jahren sagte: „
Der Herr hat mir für heute eine gute Botschaft aufs Herz gelegt und mir gezeigt, was ich euch heute lehren soll!“ Was war los mit Ole?
„Ein Wort“, fuhr dieser fort, „das herausfordert, uns ihm zu stellen. Dankbarkeit ist so wichtig, aber praktizieren wir sie?“ Und er zeigte an Beispielen aus der Schrift Menschen, die Gott Dankbarkeit schuldeten: Zachäus, die Frau am Jakobsbrunnen, Bartimäus, das blutflüssige Weib, der Mann am Teich von Siloah und der Gichtbrüchige. Es war mucksmäuschenstill in der Kirche, denn Oles Anspannung ging auf seine Zuhörer über, die nach und nach begriffen, in welcher Situation sich ihr Pastor befand und somit auch verstanden, warum Ole heute jedes Wort vom Manuskript ablas und nicht wie sonst frei sprach. Wie schwer müsse es doch für ihn sein, eine Predigt vor Gottes Augen zu halten, bemitleideten sie ihn.


Aber Ole hielt sich wacker. Sein Herz klopfte zwar zum Zerspringen, denn es fühlte sich für ihn so an, als würde jedes seiner Worte auf die Goldwaage gelegt werden, und er war heilfroh, als endlich das „Amen“ kam, dem er noch den Satz hinzusetzte: „Wenn jemand etwas ergänzen möchte, dann möge er es jetzt tun.“
Ganz still saß die kleine Gemeinde da, Sussu sah verstohlen zu Anders, doch der rührte sich zunächst nicht. Unter dem Druck des Schweigens stand er schließlich auf, ging nach vorne und sagte mit fester Stimme, die Bibel in seiner Hand haltend: „Ja Geschwister, ich gebe Ole recht, wir sollten viel dankbarer sein für das, was Gott uns gibt. Wenn wir Gott mit dankbarem Herzen anbeten, dann wohnt er sogar im Lobpreis seiner Kinder, wie die Heilige Schrift in Psalm 22 Vers 4 sagt.“ - „Er gibt Ole recht, seit wann tut er das denn?“, flüsterte Thor seiner Frau Torill zu, die fragend die Schultern hob.
Nichts aber auch nichts war an diesem Sonntag so, wie sonst, Alle Fröhlichkeit, alles Gottvertrauen, alle Sangeslust schien verflogen zu sein, stattdessen machte sich eine große Angespanntheit breit. Alle sahen in ihrer schicken Kleidung ganz verändert aus, aber das war nicht die einzige Veränderung heute: sie sprachen nicht wie sonst, lachten nicht wie sonst und genossen den Gottesdienst nicht so wie sonst. Irgendwie fühlte sich alles fremd an, seitdem Gott nach Lureby in den Gottesdienst gekommen war.
Wie gut, dass Odd das Segenslied zu spielen begann: „Da Jesus satte sjelen frind“ (Als Jesus die Seele freimachte)

Lasse, der Schwede, erhob sich, um mit dem Klingelbeutel die Kollekte einzusammeln. Er war schon einige Zeit auf seiner Bank unruhig hin und her gerückt, denn heute fiel ihm diese einfache Aufgabe sehr schwer. Er könne doch nicht, so meinte er, Gott den Klingelbeutel vor die Nase halten. Sollte er ihn einfach beim Einsammeln übergehen? Oder sollten sie heute lieber gar nicht kollektieren? Schließlich entschloss er sich, den Beutel derart herumgehen zu lassen, dass jeder ihn einfach an seinen Nachbarn weiterreichte. Er gab ihn Knut Hanson, der seinen Stammplatz ganz hinten in der Kirche hatte und setzte sich dann selbst in die erste Reihe, um den Beutel am Ende der Kollekte wieder in Empfang nehmen zu können. Aber unglücklicherweise hatte er sich direkt vor Gott gesetzt und suchte nun verzweifelt in seiner Kleidung nach einem Geldstück. Normalerweise spendete er am Sonntag nur selten etwas, da er regelmäßig einen kleinen Betrag auf das Konto der Kirchengemeinde überwies. Daher wühlte er verzweifelt in seinen Hosentaschen, bis er – Gott sei es gedankt – das Fünf-Kronen-Stück für die Einkaufswagen des kleinen Ladens im Nachbarort fand. Gerade noch rechtzeitig, denn schon reichte ihm Gott den Beutel von hinten über die Bank und er warf das Geldstück hinein. Kaum hatte er das getan, durchfuhr es ihn heiß. Ob Gott gesehen hat, was ich hineingeworfen habe, fragte er sich ganz erschrocken und wurde dunkelrot. Was soll der Herr nur von mir denken, fünf Kronen sind doch zutiefst peinlich. Gott ist schließlich kein Obdachloser, der bettelt: "Hast du mal etwas Kleingeld für mich?"

So dachte Lasse und schämte sich zutiefst, so wenig gegeben zu haben. Die Gemeinde sang inzwischen schon den letzten Vers des Liedes:
„Hvor Jesus er jeg himlen har!“ (Wo Jesus ist, fühle ich den Himmel)


Nein, den Himmel fühlte Lasse ganz und gar nicht. Und er war froh, nach der „Stille für den Herrn“ und Oles Segen aus Gottes Nähe zum Kaffeestand flüchten zu können, so elend und geizig kam er sich vor. Er war allerdings etwas zu vorschnell, denn Ole richtete heute nach dem Segen noch einmal das Wort an seine Gemeinde. Er bat darum, dass sich alle kurz hinten in der Kirche versammeln sollten, da es noch etwas wegen der anstehenden Gemeindeversammlung zu besprechen gäbe. Dann wandte er sich an Gott, um ein paar freundliche Worte mit ihm zu wechseln und ihn zu fragen, ob er nun regelmäßig kommen würde. Er wollte ihn auch zum Kirchenkaffee einladen, aber Gott strebte bereits durch den Mittelgang der Kirchentür zu. Als er die kleine Gruppe der Kaffeetrinker im hinteren Teil der Kirche durchquerte, drängelte sich Inger ganz nah an ihn heran und berührte mit ihrer Hand kurz seine Schulter. Gott hielt inne, sah zu ihr hinüber und sagte: „Lass ab Schwester, bitte, lass ab!“ dann ging er weiter und trat vor die Kirchentür. Lasse lief hinter ihm her, weil er zu gerne wissen wollte, wohin Gott nach dem Gottesdienst ging, aber als er aus der Tür nach draußen stürzte, war Gott schon nicht mehr zu sehen. Nur karge, felsige Landschaft mit kleinen zerbrechlichen Häusern und die hereinbrechende Dunkelheit erblickte er dort.
Drinnen hatte der Pastor seine Schäfchen um sich gesammelt, um sie an die Gemeindestunde nach dem Gottesdienst am nächsten Sonntag zu erinnern. Alle redeten aufgeregt durcheinander, denn so einen angespannten Gottesdienst hatte noch keiner von ihnen erlebt. Aber jetzt, wo Gott fort war, konnte man ja wieder so miteinander reden, wie man es gewohnt war.
So musste Ole sie ermahnen, um endlich das Wort ergreifen zu können. „Am nächsten Sonntag nach dem Gottesdienst werden wir unsere Gemeindestunde haben,",begann er mit lauter Stimme, „in der - wie ihr alle wisst - das Amt eines Ältesten neu besetzt werden soll.“ - „Ja“, rief Bjorg voll böser Ahnung, „mein Anders freut sich schon darauf. Er wird euch ein guter Ältester sein.“ - „Gewiss Bjorg“, unterbrach sie Ole, „aber meint ihr nicht, wir müssen Gott einen Platz in unserer Gemeindeleitung anbieten? Er ist doch der Herr der Gemeinde, das gilt für die unsrige genauso wie für alle anderen Gemeinden.“
Alle sahen sich ratlos fragend an. Daran hatten sie überhaupt nicht gedacht. Natürlich lag es nahe, Gott mit ins Gemeindeleben einzubeziehen. Er war ja schon zweimal zum Gottesdienst gekommen, da musste man ihn doch fragen, ob er in Zukunft als Ältester die Gemeindeleitung übernehmen würde. Anders und seine Frau erhoben sich ärgerlich von ihren Plätzen. „ Was habt ihr nur gegen meinen Mann?“, rief Bjorg, „ Immer gibt es eine Ausrede, immer kommt etwas dazwischen, immer wird er wieder nicht Ältester." Beleidigt verließ sie mit ihrem Mann die Kirche die Kirche, noch bevor Ole sagen konnte, er wisse doch noch gar nicht, ob Gott dieses Amt überhaupt annehmen wolle. Die Zurückgebliebenen bestärkten Ole in seinem Vorhaben, Gott zumindest zu fragen. Einige schlugen vor, Gott im Gebet nach seiner Meinung zu befragen, aber wurden dann von den anderen überzeugt, dass es wohl sicherer sei, auf Gottes Antwort am nächsten Sonntag zu warten. Da hätten sie ja die Gelegenheit, ihn ganz real zu befragen.
Als sich etwas später alle aufmachten, um nach Hause zu gehen, war Inger schon nicht mehr bei ihnen. So schnell sie nur konnte, war sie nach Hause gelaufen. Dort angekommen, warf sie sich auf das Sofa und weinte. Alles brach aus ihr heraus, die Kritik einiger an den Texten der von ihr ausgesuchten Lieder, die Scham über die ausgerechnet heute so kümmerliche Leistung des Chores. Man kann doch nicht einfach mitten im Lied zu singen aufhören, dachte sie, und dann singen meine Leute, als ob sie flüstern sollten, verhaspeln sich und brechen das Lied einfach ab. Und das gerade an einem Tag, an dem Gott sie besucht.
Inger nahm persönlich, was gar nicht persönlich war und so litt sie an dem, was gar nicht ihr gegolten hatte. Am meisten aber tat ihr Gottes Antwort für sie weh. Als Ole von der Frau predigte, die Jesu Gewand berührt hatte und dadurch von langjähriger Krankheit geheilt wurde, kam ihr plötzlich in den Sinn, es ebenso zu machen. Jahrelang hatte die Trauer um ihren verstorbenen Mann ihr Leben zermürbt und sie müde und traurig gemacht. Und wenn dieser Mann heute in der Kirche nun wirklich Gott ist, so hatte sie es sich überlegt, dann werde auch ich durch eine Berührung mit ihm geheilt. Darum war es ihr gleichgültig gewesen, was die anderen dachten oder sagten, sie hatte Gott berührt. Mit welchem Erfolg? Lass los, Schwester, hatte er gesagt, genau den gleichen Satz, mit dem all ihre psychologischen und seelsorgerliche Gespräche zu diesem Thema geendet hatten. Oder hatte er nur ganz banal gemeint, er wolle von ihr nicht berührt werden? Ganz gleich, was er gemeint hatte, sie fühlte sich in ihrem Glauben getäuscht und verletzt.

*

Die Woche verlief auch für ihre Glaubensgeschwister in Lureby nicht gut. Alle waren irgendwie unglücklich, etwas fühlte sich falsch an und niemand konnte ihnen sagen, was es war.
Anders saß wie besessen über seiner Bibel. Sehr wohl verstand er, was Ole hatte sagen wollen. Natürlich musste man Gott einen Platz in der Gemeindeleitung geben, denn, so sagt es ja der Apostel Paulus im Korintherbrief, Jesus ist das Haupt der Gemeinde. Daran hatte er, wie alle anderen auch, keinen Zweifel. Aber warum traf es ausgerechnet immer ihn? Wollte Gott ihn nicht im Ältestenamt haben? Schätzte Gott seine Bibelkenntnis nicht? Sie wäre doch gerade im Vorstand der Gemeinde von großem Vorteil für alle. Welche Gemeinde wünscht sich keinen bibelfesten Vorstand? So dachte er und Wolken zogen sich über ihm und in ihm zusammen. Nach drei langen Tagen des Grübelns sprang er plötzlich auf, ergriff Jacke, Mütze, Schal und rannte zu Ole Einar Björndalen, seinem Pastor. In der Aufregung hatte er die Zeit vergessen und so klingelte er stürmisch zu nächtlicher Stunde den alten Mann aus Bett und Haus. Ole rieb sich verwundert die Augen, Anders so spät ganz aufgeregt und aufgelöst vor seiner Tür zu sehen. Er bat ihn herein und kurze Zeit später saßen sich die Männer am Küchentisch gegenüber. Anders packte seine Bibel auf den Tisch, holte tief Luft und dann platzte es aus ihm heraus: „Er kann nicht Ältester werden, Ole, er kann es einfach nicht! Das wäre zutiefst unbiblisch“ - „Wovon redest du, Anders, beruhige dich doch erst einmal!“, versuchte der Pastor mäßigend auf seinen Glaubensbruder einzuwirken. „Gott, ich rede von Gott!“, erwiderte Anders ganz aufgeregt. „Gott kann gar nicht Ältester in unserer Gemeinde werden. Das geht gar nicht!“ - „Und wer sagt das?“, fragte Ole immer noch verwirrt. „Die Bibel!“, rief Anders, „Glaub mir Ole, vertrau mir, nach der Heiligen Schrift kann Gott niemals Ältester in einer Gemeinde werden. Schau her!“ Anders blätterte in seiner Bibel, um dann dem etwas verstört dreinblickenden Pastor triumphierend die Qualifikationen eines Ältesten nach Titus 1 Vers 6 vorzulesen. Dort heißt es:
„Älteste müssen Männer sein, die ein vorbildliches Leben führen; das heißt, sie müssen ihrer Frau die Treue halten, ihre Kinder sollen die Eltern achten und nicht als zügellos und ungehorsam bekannt sein.“

Verstehst du jetzt, Ole?“ Anders schaute Ole triumphierend an. Als Ole verneinte, rief Anders mit sich überschlagender Stimme: „Hier steht ganz deutlich, wie ein Ältester zu sein hat. Er soll eine Frau haben und Kinder, die auf keinen Fall ungehorsam sein dürfen. Das steht hier schwarz auf weiß!“ - Als Ole scheinbar immer noch nicht verstand, setzte Anders nach: „Hat Gott eine Frau? Hat Gott Kinder? Ja, die hat er zwar, denn die Schrift sagt, w i r sind seine Kinder! Aber sind wir stets gehorsam? Nein Ole, das sind wir nicht, du bist es nicht, ich bin es nicht und wir beide kennen viele Christen, die sündigen oder gesündigt haben. Wenn er also keine gehorsamen Kinder hat, kann Gott nicht Ältester werden, wenigstens nicht hier unten auf Erden!“ - „ Hör auf, Anders!“, rief Ole entsetzt “Versündige dich nicht! Das ist doch Unsinn! Schlafen wir uns erst einmal richtig aus und Sonntag sehen wir weiter!“ Der Pastor schob ihn etwas unsanft zur Tür und schloss diese hinter ihm. Gekränkt ging Anders nach Hause. Er wollte doch nur, dass die Gemeinde biblisch lebte. Warum verstand das nicht einmal sein Pastor?
Noch einiges geschah in dieser Woche: Eline und Kari erschienen bei Ole zur Seelsorge. Er sprach lange mit ihnen über das Gebot: Du sollst dir kein Bildnis machen und konnte sie davon überzeugen, in Zukunft wieder am Gottesdienst teilzunehmen. Arne und Torill beschlossen ebenfalls, am nächsten Sonntag wieder zum Gottesdienst zu gehen, denn man könne ja nicht immer dann zu Hause bleiben, wenn Gott in die Kirche komme. Nur Jonas wurde in der Woche kaum gesehen. Einige meinten, sie hätten ihn nachts mit einer Taschenlampe draußen herumlaufen sehen. Wenn man bei ihm klopfte, verweigerte er das Öffnen der Tür und auch Linea hatte keinen Erfolg bei ihren Versuchen, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Inger half in dieser Woche täglich den Fischern beim Abladen des Fanges und beim Aufladen desselben auf Lasses Lastwagen. Sie erledigte ihre Aufträge stets gewissenhaft und stellte in dieser Woche eine merkwürdig wunderbare Veränderung an sich fest. Immer wenn sie an ihren verstorbenen Mann dachte, spürte sie keine Traurigkeit, beklemmende Gedanken oder Vorwürfe Gott gegenüber mehr in sich. Nein, sie fühlte eine tiefe Dankbarkeit für die Zeit, die sie mit ihm hatte verbringen dürfen. Ob Gott doch etwas in ihr verändert hatte, fragte sie sich und bereitete erwartungsvoll die Lieder für den nächsten Gottesdienst vor. Dabei achtete sie sorgfältig auf die Texte, denn niemand sollte etwas singen, hinter dem er nicht stehen konnte.

*

Der Sonntag kam, sie sangen das Eingangslied, hörten ein Glaubenszeugnis und versuchten sich im Lobpreis.Auch Jonas war wieder gekommen, etwas zögerlich, unsicher zunächst, aber das legte sich bald.

Nur einer kam nicht: Gott

Ole hielt eine weitere Predigt zum Thema Dankbarkeit, Anders gab wie immer seinen Kommentar dazu ab und wurde in der anschließenden Gemeindeversammlung zum Ältesten gewählt. An deren Abschluss beteten alle gemeinsam und es berührte sie seltsam, dass ausgerechnet Knut Hanson bat: „Herr, ich habe dich heute vermisst, wo warst du? Antworte uns doch!“
Aber Gott zeigte sich nicht mehr in Lureby. Als das die Gemeinde begriffen hatte, löste sich nach und nach die Anspannung und ihr Gottesdienst wurde wieder richtig schön: keine Selbstvorwürfe, keine Ängste, keine Zweifel und jeder kleidete sich wieder so, wie er wollte. Alles lief so unkompliziert und entspannt ab wie früher: Das Singen ebenso wie die geistlichen Bilder und Ermutigungen, die Glaubenszeugnisse, Oles Predigt und vor allem der Lobpreis.
Das änderte sich auch nicht, als an einem der nächsten Sonntage plötzlich die vier Heiden in der Kirche standen. Beide Ehepaare sahen sich unsicher um und freuten sich, dass Ole gleich zu ihnen eilte und sie begrüßte. Sie sagten, sie hätten gehört, Gott käme in diese Kirche zum Gottesdienst. Den würden sie gerne einmal sehen und sprechen.

Als Ole ihnen erklärte, Gott würde schon seit zwei Wochen nicht mehr zum Gottesdienst erscheinen, drehten sie sich auf der Stelle um und gingen mit den Worten: wenn Gott nicht hier wäre, dann hätten sie hier auch nichts zu suchen. Nur Ragna, die Frau von Johann Petersson, blieb, weil sie nun eh schon mal da war. Und da ihr der Lobpreis und die Kaffeegemeinschaft so gut gefiel, blieb sie für immer. Und so bekam Odd für all seine Gebete doch noch seine ganz kleine Erweckung in Lureby.

Sie genossen es einfach, in ihrem kleinen Kirchlein wieder ganz unter sich zu sein und freuten sich, dass Inger ein neues Lied mit ihnen einstudierte, ein hoffnungsvolles, glaubenstärkendes:

"Sprich, o Herr, denn wir stehn vor dir,
um zu hören nun auf dein heilges Wort.
......
Sprich, o Herr, bis die Zeit erfüllt
und du kommst in deiner Herrlichkeit"



..... aber Gott schwieg, denn stören wollte er nicht.....




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